"Auch ein gewalttätiger Mann hat verschiedene Seiten"

In der Arbeitserziehungsanstalt Uitikon ZH haben straffällig gewordene junge Männer die Möglichkeit, an Stelle einer Gefängnisstrafe eine Berufsausbildung zu machen. Karin Schröder*, Sozialarbeiterin in Ausbildung, erlebt den Alltag in der AEA als emotional intensive Lehrzeit.

Viele Jungen stehen unter grossem Druck. Es besteht eine Diskrepanz zwischen gängigen männlichen Rollenbildern und ihren eigenen Vorstellungen, was sie als Mann sein möchten. Wie erfahren Sie solche Konflikte?
Karin Schröder: Die Konflikte gibt es und sie haben verschiedene Ursachen, zum Beispiel fehlende Vorbilder oder kulturelle Unterschiede. Die Jungen hatten wenig Gelegenheit sich an in unserer Gesellschaft akzeptierten Rollenvorbildern zu orientieren. Dies kommt zum Ausdruck, wenn sie zum Beispiel kochen oder das Clo putzen müssen, doch sie finden sich schnell damit ab und akzeptieren die Regeln, die für alle gelten. Anspruchsvoller ist es mit Klienten, die ihre Gefühle derart unterdrücken, dass sie sich selber kaum oder verzerrt wahr nehmen. "Machogehabe" ist eigentlich kein Thema hier. Ich betrachte es aber als meine Aufgabe, einem Klienten mit Wertschätzung zu begegnen, auch wenn sein Weltbild nicht dem meinen entspricht. Das schliesst nicht aus, dass ich zeige, wie ihr Verhalten bei mir ankommt.

Kommt es in den Gruppen auch zu Konflikten, weil dominierende, starke Männer eher sanfte Mitbewohner unterdrücken?
Karin Schröder: Vordergründig nicht. Dazu trägt sicher bei, dass unsere Klienten ihre geregelte, private Freizeit haben und dann einen Sportklub, PC-Kurs, eine Jugendgruppe oder ihre Familie besuchen. Dies im Unterschied zur geschlossenen Abteilung, wo sie enger aufeinander leben und wo auch intensivere gruppendynamische Prozesse ablaufen. Es ist aber so wie überall, dass einzelnen Klienten mehr Respekt entgegen gebracht wird und andere eher Aussenseiter sind. Wir bemühen uns, mit ihnen die nötigen Gruppenprozesse zu gestalten.

Ihr nennt eure Bewohner Klienten, also Kunden. Was bietet ihr ihnen an und was können sie bei euch erwerben?
Karin Schröder: Sie können hier eine Berufsausbildung machen, im Wohnbereich wird sozialpädagogisch mit ihnen gearbeitet, und die meisten machen zusätzlich eine Therapie. Tatsache ist, dass sie ein Delikt begangen haben, das nach unserem Gesetz strafbar ist. Wir bieten ihnen eine Alternative zum Gefängnis, die Möglichkeit, sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen, die manchmal hart ist. Sie können hier ihre Vergangenheit aufarbeiten mit dem Ziel, möglichst selbständig und deliktfrei zu leben. Dabei ist zu bedenken, dass sie nicht ganz freiwillig hier sind, dass sie eine verordnete Massnahme haben. Beeindruckend ist für mich, dass die meisten gern zur Arbeit gehen. Sie haben dort eine konkrete Aufgabe und ein realistischeres Umfeld als im Wohnbereich.

Was sind die häufigsten Ursachen, dass die jungen Männer straffällig werden?
Karin Schröder: Bei vielen hängt es mit Orientierungslosigkeit und fehlenden Perspektiven zusammen. Sie haben die Schule schlecht und recht durchlaufen, keine Lehrstelle gefunden. Oft haben sie in einer Clique etwas angestellt. Sie sehen keine andere Möglichkeit, sich zu bestätigen, sie reagieren sich ab, probieren aus. Häufig haben sie auch Persönlichkeitsprobleme, die sie in der Therapie aufarbeiten.

Womit hängt das zusammen?
Karin Schröder: Mir fällt auf, dass die meisten aus schwierigen Verhältnissen kommen, unabhängig von der Schicht, viele aus ländlichen Gebieten. Ein Grund dafür mag sein, dass das sozialpädagogische Angebote oder Prävention dort wenig oder gar nicht vorhanden sind.

Welche Möglichkeiten bestehen in der Arbeitserziehungsanstalt, auf die Ursachen der Konflikte einzugehen und sie zu bearbeiten?
Karin Schröder: Sicher in der Therapie, aber auch über das Verhalten im Alltag und die Erfolgserlebnisse bei der Arbeit. Wir versuchen, ihnen mit einem Freizeitangebot Alternativen aufzuzeigen, sind aber auch konfrontativ, indem wir ihnen den Spiegel vorhalten und mit ihnen besprechen, wie sie sich in Konfliktsituationen anders verhalten könnten. Dabei geht es nicht immer um Gewalt, sondern auch um Beziehungen und wie sie diese neu aufbauen können. Wir arbeiten eng mit dem Therapeuten zusammen und auch mit den Leitern aus den Lehrbetrieben. Diese Zusammenarbeit ist transparent und wir signalisieren damit den Klienten, dass wir sie ernst nehmen und unterstützen.

Als Mitarbeiterin einer Vollzugsinstitution haben auch Sie Macht und können Gewalt aus üben. Lassen sich straffällige Junge Männer mit Gewalt zu friedlichen Bürgern erziehen?
Karin Schröder: Unser Ziel ist nicht in erster Linie, dass sie friedliche Menschen werden, sondern dass sie deliktfrei leben können. Gewaltanwendung ist auch nicht unser Hauptinstrument. Es gibt Sanktionen, und sie bedeuten ab und zu auch Gewalt in Form von Zelleneinschluss. Wir gehen aber nicht leichtfertig mit dieser Möglichkeit um. Für mich ist wichtig, dass für die jungen Männer von Anfang an klar ist, dass wir diese Regel haben und warum wir sie haben. Das Amt für Justizvollzug gibt die Hauptregeln vor, und wir regeln die Einzelheiten. Wir versuchen Sanktionen auszusprechen, die im Zusammenhang mit dem Regelverstoss stehen, die etwas zu tun haben mit Wiedergutmachung oder mit Abgeltung. Doch es gibt auch Situationen, bei denen wir uns und die Mitbewohner schützen müssen. Man darf nicht vergessen, dass diese jungen Männer gegen das Gesetz verstossen haben, das unsere Gesellschaft aufgestellt hat. Ich erinnere mich an das Argument einer Kollegin, die mit misshandelten Mädchen arbeitet. Für sie ist es wichtig, dass Jungen, die gegenüber Mädchen Gewalt anwenden, auch angepackt werden und Konsequenzen erfahren. Wir müssen die Situation unserer Klienten im Zusammenhang mit der übrigen Gesellschaft sehen. Sie haben andere geschädigt und zwar massiv. Trotzdem sollen sie eine Chance für einen Neubeginn haben. Das versuchen wir durch ressourcenorientierte, konfrontative Arbeit mit den Klienten zu erreichen.

Welche Spannungen oder Widersprüche erleben Sie als politisch aktive Frau in diesem Männerbetrieb?
Karin Schröder: Als Frau fühle ich mich nicht in Frage gestellt, vielleicht eher in meiner Funktion als Sozialarbeiterin. Ein zwiespältiges Verhältnis habe ich zu Gewalt und zur Ausübung von Macht. Es ist meine Überzeugung, dass in einer Demokratie das Gewaltmonopol bei Staat liegen soll. Wie es umgesetzt wird, muss die Gesellschaft aushandeln. Das bedeutet aber, dass diese Umsetzung auch einer demokratischen Kontrolle unterliegt. Wir in der AEA üben gewissermassen staatliche Gewalt aus. Es erfordert ein feinfühliges Vorgehen und gut qualifiziertes Personal, wenn wir den hohen Zielen unseres Leitbildes gerecht werden wollen. Ich finde es gut, dass die jungen Männer anstatt eine Gefängnisstrafe abzusitzen die Möglichkeit haben, eine Berufsausbildung zu machen. Damit setzen wir bei den positiven Seiten der Betroffenen an und versuchen sie dort zu unterstützen. Das ist natürlich eine systemstützende Arbeit, wie Sozialarbeit überhaupt. Meine Perspektive hat sich insofern verändert als ich sehe, dass sich unsere Klienten jetzt und unter diesen Bedingungen in einer Massnahme befinden. Es nützt ihnen nichts, wenn ich sage, dass das System daneben sei. Ich versuche sie mit meinem Menschenbild und meiner Überzeugung zu unterstützen. Das schliesst das Bemühen um einen zielgerichteten und menschlichen Strafvollzug nicht aus.

Wie hat sich Ihre Vorstellung von Gewalt verändert, seitdem Sie in Uitikon arbeiten?
Karin Schröder: Ich habe ein differenzierteres Bild von Gewalt bekommen. Es gibt die Definition von Gewalt im Strafgesetzbuch und in einem andern Kontext die persönliche Definition, bei der die Betroffenen selber entscheiden, was für sie Gewalt bedeutet und die Grenze setzen sollen. Für mich ist beispielsweise Strassenverkehr sehr "gewalttätig". Gewalt hat ein konkreteres, alltäglicheres, aber nicht harmloseres Gesicht bekommen.

*Karin Schröder absolviert die berufsbegleitende Ausbildung BSA an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Zürich HSSAZ. Das Interview führte Christa Zopfi.
  


Von der Arbeitserziehungsanstalt zum Sozialpädagogisch-therapeutischen Kompetenzzentrum

Der Massnahmenvollzug für Jugendliche und junge Erwachsene muss nach heutigen Erkenntnissen von verschiedenen Fachdisziplinen gestaltet sein, die weit über die ursprünglichen Ideen der Arbeitserziehung (Erziehung zur Arbeit = Heilung) hinausgehen. Aus der Sicht der Sozialpädagogik steht der Mensch im Mittelpunkt. Daraus entwickelte sich das Konzept der Integration von Berufserziehung/Berufsbildung und fachlicher sozialpädagogischer Unterstützung zur Entwicklung der Persönlichkeit des Klienten. In den letzten Jahren bringen die in die AEA Uitikon eingewiesenen Klienten neben der eigentlichen Delinquenz vermehrt verschiedenste Persönlichkeitsbelastungen mit. Dies rief nach einem neuen Konzept und neuen Strukturen. Im Kanton Zürich wurde das Amt für Justizvollzug geschaffen, das nun Anstalten, Bewährungs- und Vollzugsdienste und den Psychiatrisch-Psychologischen Dienst umfasst. Diese Integration bietet für die AEA Uitikon die strukturelle Grundlage, ein 3-Säulen-Modell für den Massnahmenvollzug als sozialpädagogisch-therapeutisches Kompetenzzentrum zu entwickeln. Sie versteht sich zudem als "Lernende Organisation" und nutzt den Alltag im Betrieb als Lernmöglichkeit. Veränderungen, Abweichungen und Unsicherheiten sind Quellen für neue Erkenntnisse zur Gestaltung des Alltags. Die Mitarbeitenden lernen dadurch ihre kreative Rolle im Rahmen der AEA einzusetzen, damit sie die (Re-)Sozialisierung der Klienten angemessen unterstützen.

Quelle: www.justizvollzug.ch . Jahresheft 2002, Michael Rubertus: Von der Arbeitserziehungsanstalt zum sozialpädagogisch-therapeutischen Kompetenzzentrum.

 


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