Lieber gewalttätig als feig: Männlichkeit erlernen als Vorbereitung auf Krieg

Krieg ist Männersache. Genauer gesagt, ältere Männer entscheiden, jüngere Männer in den Krieg zu schicken - und meistens gehorchen diese. Väter und Mütter schauen zu oder jubeln sogar, wenn sich ihre lieben Söhne darauf vorbereiten, die lieben Söhne anderer Väter und Mütter zu töten oder von ihnen getötet zu werden.

Von Ron Halbright*
Irgendwie scheint es ein Kennzeichen eines Volkes zu sein, dass Männer bereit sind, Söhne zu opfern, und sie so zu erziehen, dass sie bereitwillig ihr Leben, nicht nur für die Familie, sondern auch für das Volk riskieren. Nehmen wir die Mythen von Abraham und Wilhelm Tell: Jeder steht als Ursprungsmythos für ein Volk - das israelitische und das schweizerische - und stellt einen Vater dar, der wegen eines Befehls beinahe das Leben seines Sohnes opfert.

Wie werden Buben darauf vorbereitet?

In Kulturen, in denen Männer ihr Leben im Krieg oder auf der Jagd riskieren müssen, tendieren männliche Initiationsriten den Übergang zum Mannsein brutaler und schmerzhafter zu gestalten (Gilmore 1993). Dagegen haben Völker auf friedlichen tropischen Inseln den Buben eher sanftere Reifungswege vorgeschrieben.

Trotz der Sonderstellungder Schweiz wird nach den herrschenden Männlichkeitskonzepten von fast allen "richtigen" Schweizer Männern erwartet, dass sie sich psychisch und physisch auf Krieg vorbereiten. Das Militär stellt eine Sozialisationsinstanz dar, die das dominante Männlichkeitsideal prägt . Organisierter Sport in der Schule sowie in der Freizeit wurde ursprünglich als seelische und körperliche Vorbereitung aufs Militär eingeführt. Der Umgang mit Schmerz, Konkurrenz, Hierarchie, Gehorsam, Männerehre, Vergeltung und Gruppengeist wird früh eingeimpft, um die weichen männlichen Kleinkinder auf ihre Bürgerpflicht vorzubereiten.

Erst seit etwa zehn Jahren hat eine Kritik gegenüber abhärtender Knabenerziehung breiteres Interesse in Westeuropa und in den übrigen reichen Industrieländern geweckt. Dafür haben sich die Friedensbewegung, die neue Frauenbewegung und die kleine, aber wachsende Männerbewegung eingesetzt und ein Argumentarium für diese Entwicklung geliefert. Genau so wichtig wie die sozialen Bewegungen sind jedoch auch soziale und politische Veränderungen in diesen Ländern:

• die Befreiung vieler Männer vom Kriegsdienst

• das Ende des Kalten Kriegs

•die Technisierung des Schlachtfeldes sowie des "Krieges gegen Terrorismus", wo kaum Soldaten aus den Industrieländern (insbesondere USA) gestorben sind

• die Veränderungen im Erwerbsleben: Verminderung körperlich anstrengender Arbeit in den Industrieländern, Wachstum des Dienstleistungssektors ,Entstandardisierung der beruflichen Lebensläufe

• die Schwierigkeiten , das Gefühlsleben an Frauen zu delegieren

Trotz dieser Entwicklungen basiert die heutige Jungenerziehung zum grössten Teil immer noch auf einer Abhärtung der Buben, einer Panzerung ihres Körpers und der Unterdrückung der weichen, verletzlichen Gefühle. Denn: Eine gezielte Schulung ist nötig, um ein Kind zum Kämpfer zu machen.

Neugeborene Buben sind genau so wie Mädchen herzig und werden gerne in die Arme genommen. Mit Buben wird rauher gespielt, sie werden in die Luft geworfen, man erwartet von ihnen früher Unabhängigkeit. In der Primarschule erleben sie oft, dass Zärtlichkeit zwischen Jungen als kindisch oder "schwul" abgetan wird. Berührungen müssen tönen: Ein Klaps auf den Rücken oder ein lauter, ritualisierter Handschlag, sonst wäre etwas verdächtig.

Diese Verhaltensmuster sind stark kulturell bedingt: In Indien berühren sich die Männer mehr als um den Zürichsee. In der Romandie küssen sich die Männer mehr auf die Wangen als in der Deutschschweiz.

Auf ähnliche Weise lernen Buben Tränen und Trauer zu verstecken, das Interesse an Hausarbeit oder Puppen zu verdrängen und sonst alles "Weibliche" abzugewöhnen, um nicht in der Clique aufzufallen und eine Ausgrenzung zu riskieren.

Ersatz für Zärtlichkeit

Unerfüllte menschliche Grundbedürfnisse müssen kompensiert werden. Wenn sich die Jungen im Primarschulalter nicht zärtlich berühren dürfen, müssen sie anderweitig Körperkontakt erhalten. Wo finden unsere Söhne die lebensnotwendige körperliche Nähe?

Eine Möglichkeit ist der freundliche Schlagaustausch. Ein Kumpel schlägt den andern auf die Schulter, der genau so fest zurückschlägt. Diese seltsam aussehenden Streicheleinheiten bedeuten, dass ein richtiger Kollege die friedliche und freundliche Absicht eines schmerzhaften Schulterklapses erkennt. Nur ein Feind würde das als Angriff missverstehen und fester zurückschlagen.

Eine weitere Möglichkeit ist "moschte" oder "hufe" (mosten oder haufen). "Hufe" oder "Krüzbigele" sieht so aus: ein Kind wird auf den Boden geworfen, dann springen alle darauf. "Moschte" ist ungefähr das gleiche, aber stehend. Wie "Freundschaftskämpfli" und Rammeln bieten diese Gewaltspiele ritualisierten Körperkontakt, ohne zu riskieren als unmännlich zu gelten.  

Kämpfe, oder du bist ein Feigling

Es gibt aber Buben, die weder rammeln noch kämpfen, die eine weniger kriegsorientierte Männlichkeit leben. Sie werden oft mit schmerzhaften Übernamen abgetan: "Feigling", "Muttersöhnchen", "Schwächling", "Meitli", "Schwudi" oder "Hosenscheisser". Der nicht kampfbereite Junge ist kein "richtiger" Mann, wird deshalb ausgeschlossen oder sogar zusammengeschlagen.

Die meisten Buben entscheiden sich schnell, diese Rolle um jeden Preis zu vermeiden. Mann schliesst sich einer Gruppe an, um sich sicher zu fühlen. Die Gruppe hilft mit, wenn die individuelle oder die Gruppenehre verletzt scheint. Vergeltung zeigt Stärke und beugt weiteren Angriffen vor. Mögliche Feinde - also diejenigen, die nicht zur Clique gehören - werden lächerlich gemacht und als minderwertig betrachtet. Solche Abspaltungen sind nötig, wenn Gewalt gerechtfertigt und das Gewissen beruhigt werden muss.

Folgekosten der herrschenden Männlichkeit

Jeder herzige kleine Bub sollte achtzehn Jahre später bereit sein, als Soldat sein Leben zu riskieren oder das Leben eines anderen jungen Mannes zu nehmen. Männliche Vorbilder, aggressiver Sport sowie stereotypische Figuren in Märchen und in den Medien wirken zusammen, um ihn seelisch zu panzern und Gewalt als männlich zu definieren.

Männer eignen sich viel Nützliches an durch dominante Männlichkeit: Ausdauer, Teamarbeit, Leistungsfähigkeit, körperliche Stärke, Durchsetzungsvermögen. In der heutigen Gesellschaft, wo mehr Krankenpfleger als Holzfäller, mehr Kundenfreundlichkeit als Kampfgeist gefragt sind, bekommen andere Qualitäten Gewicht. Die persönlichen und gesellschaftlichen Kosten der kriegerischen Sozialisation sind nicht mehr tragbar.

Diese Muster sind eigentlich ungesund für uns Männer und gefährlich für unsere Umwelt. Häusliche Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder zeigt die Notwendigkeit, die Verbindung zwischen Männlichkeit und Gewaltbereitschaft zu durchbrechen. Die Gefängnisse und Jugendheime sind zu 75 bis 90 Prozent von männlichen Jugendlichen und Männern belegt.

Wäre die männliche Lebenserwartung immer noch kürzer als die der Frauen, wenn sich Männer nicht durch Suchtmittelkonsum, gefährliche Sportarten, Autoraserei und Leistungsstress kaputt machen würden? Die Kosten tragen nicht nur die betroffenen Männer, sondern auch ihre Opfer sowie die Krankenkassen und das Justizsystem.

Männer- und Bubenarbeit

Immer mehr Männer in den Industrieländern suchen Orte, wo sie über ihre Sozialisation nachdenken und sie hinterfragen können.

Die Chancen scheinen besser, dass die neue Generation von Buben andere Konzepte von Männlichkeit erleben können. Wie die Männer brauchen auch Knaben Räume, wo sie lernen können, Konflikte ohne Gewalt zu lösen, ihre Verletzlichkeit preiszugeben und eine lebenstüchtigere und lebensfreudigere Männlichkeit zu entwickeln. Dies bedeutet institutionelle Veränderungen: " Denn ohne die Humanisierung der Jungen wird eine Humanisierung der Schule nicht möglich sein. Aber auch ohne eine Humanisierung der Schule ist eine Humanisierung der Jungen undenkbar." (Kaiser 1997)

Buben- und Männerarbeit beinhaltet neben wertvollen Gesprächen auch Massage und Bewegungsspiele erleben, Körperkontakt nicht mit Schmerz verbinden zu müssen. Aggressionen können mit einem Boxsack oder beim fairen "Hoselüpfe" abgedämpft werden.

Für diese Bubenarbeit - in der Schule oder Freizeit - sind bewusste Männer unabdingbar, die Buben abholen können, wo sie sind, und ihnen aus dieser Sackgasse helfen.

Neue Vorbilder - Friedenskämpfer?

Welche "Männlichkeiten" sind zeitgemäss? Jeder muss seine eigene Antwort finden. Was wir brauchen, sind mutige, einfühlsame Männer, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, die Zivilcourage beweisen und allenfalls verwahrloste junge Männer begleiten können. Männer wie Nelson Mandela, Kofi Annan, Martin Luther King, Jr. Leben oder lebten eine Männlichkeit vor, die einerseits auf Fairness und Versöhnung, andererseits auf Tapferkeit und Führungsstärke basieren. Hierzulande gibt es auch Friedenskämpfer, die ähnlichen Idealen folgen. Frieden gibt es erst, wenn die Männer sich verändern:

Ohne die Humanisierung der Männer ist eine Humanisierung der Gesellschaft nicht möglich. Aber ohne eine Humanisierung der Gesellschaft ist eine Humanisierung der Männer undenkbar. 

*Ron Halbright ist Vorstandsmitglied vom Netzwerk Schulische Bubenarbeit und mannebüro züri, Leiter von NCBI Schweiz (www.ncbi.ch). Autor von "Knabengerechte Koedukation" (Edition Soziothek 1998).
Das Netzwerk Schulische Bubenarbeit organisiert regelmässig Tagungen (01 242 0788, nwsb@gmx.net).
 


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