Männer prägen Buben - nicht nur ihre eigenen
Wir unterschätzen die Wirkung dessen, was Erwachsene den Kindern vorleben. Buben, die nachahmen, brauchen Männer, die vorahmen und zwar in alltäglichen Situationen. Deshalb besteht der Wunsch nach mehr Männern in der Betreuung von kleinen Kindern.
Von Felix Wettstein-Tschofen*
Fast alle Buben sind schon im zarten Kindesalter von Lastwagen, Baumaschinen oder Rangierloks fasziniert. Sie kennen den Unterschied zwischen Trax und Bagger besser als die meisten Erwachsenen. Demgegenüber sind es meistens die Mädchen, die soziale Spiele anregen und die jüngeren Kinder mit einbeziehen. Viele Erwachsene sind sehr erstaunt, dass sich ihr Kind schon sehr früh "typisch" als Bub oder als Mädchen verhält. Schliesslich achten sie doch beim Spielzeugkauf darauf, dass ein Mädchen auch Modellautos oder WerkzeugKasten, ein Bub auch Puppen oder Kochgeschirr geschenkt bekommt. Ob dieses geschlechtstypische Verhalten wohl doch in den Genen vorprogrammiert ist?
Die Wirkung von Spielzeugen wird überschätzt. Die Wirkung des Vorlebens durch Erwachsene wird hingegen unterschätzt. Und vor allem: Es sind nicht nur die eigenen Eltern, welche vorleben! Lastwagen, Eisenbahnloks, Baumaschinen werden fast ausnahmslos von Männern bedient. Das bekommen die Buben natürlich mit. Sie bekommen auch mit, dass sich tagsüber fast nur Frauen um die Kinder kümmern, putzen, waschen, einkaufen, Essen zubereiten. Selbst wenn in der eigenen Familie Vater und Mutter die Haus- und Familienarbeit aufteilen, erleben es ihre Kinder in der Nachbarschaft, wie die Rollen immer noch grösstenteils verteilt sind. Den Buben entgeht auch nicht, dass fast immer der Mann das Auto steuert oder den Fahrplan bestimmt, wenn die Familie gemeinsam unterwegs ist. Sie realisieren, dass die Frauen zur Stelle sind, wenn ein Kind krank ist oder wenn ein "Pflästerli" und ein Trost nötig sind. Es entgeht ihnen nicht, dass im Einkaufsladen die Frauen an der Kasse und die Männer an der Rampe arbeiten. Sie bekommen mit, dass Frauen Kleider flicken, Männer jedoch Motorräder.
Frauen sind "die andern"
Hinter solchen Tätigkeiten verbergen sich Haltungen, die unser Handeln prägen und die zu einem bedeutenden Teil den einzelnen Geschlechtern zugeordnet werden können. Buben realisieren, dass Konkurrenz- und Wettbewerbssituationen den meisten Männern gefallen, dass die Männerwelt immer wieder klären muss, wer besser und schwächer, wer oben und wer unten ist. Sie bemerken auf der anderen Seite, dass Frauen ihr Augenmerk mehrheitlich auf Harmonie, auf stimmiges Aussehen und auf Verständigung legen.
Schon mit wenigen Jahren ist einem Bub klar, dass er zu "denen da" gehört, zu den Männern und den anderen Jungen, und dass die Frauen und Mädchen "die anderen" sind. Wenn ein Bub zu den Männern gehören will, dann muss er sich für diejenigen Dinge interessieren und jene Sachen imitieren, welche offensichtlich von den Männern oft und gern getan werden. Und er darf sich nicht zu sehr für jenes erwärmen, was ebenso offensichtlich Frauen oft und gerne tun, denn damit wäre ja sein Mannwerden gefährdet.
Der Vater ist vermutlich der wichtigste Mann für (fast) jeden Bub. Aber er ist nicht der einzige. Den Buben tut es gut, wenn sie verschiedene Männer erleben: ihren Götti, den Arbeitskollegen der Mutter oder des Vaters, den Nachbarn, den Jugendleiter, den Sozialpädagogen oder den Primarlehrer (eine seltener werdende Spezies...). Für Söhne von allein erziehenden Frauen ist es erst recht von grosser Wichtigkeit, dass sie auch männliche Bezugspersonen haben.
Welche Männer tun den Buben gut?
Da und dort wird die Ansicht vertreten, dass es für Buben wichtig sei, ab und zu etwas "richtig Männliches" zu erleben. Wenn sie schon zu einem grossen Teil des Alltags in der weiblichen Welt aufwachsen und laufend die "weiblichen" Werte wie Ausgleich, Harmonie und Kooperation erleben, dann sollen sie in Kontakt mit einem Mann die echte Männlichkeit mitbekommen: Mut, Unerschrockenheit, Hierarchie und Konkurrenz, etwas Heldenhaftes und Unzimperliches, Begeisterung für Sport und Wettkampf und so weiter. Nur Männer können solche Erlebnisse authentisch bieten.
Genau das Gegenteil wird von anderen Kreisen vertreten. Den Buben sei am meisten gedient, wenn sie "moderne" Männer hautnah erleben können, welche andere Werte pflegen. Wenn schon in den Medien und in der Wirtschaftswelt fast immer die traditionelle Männlichkeit vorgelebt wird - was wir ja eigentlich überwinden möchten - dann muss ein Bub in seinem Umfeld unbedingt andere Seiten des Mannseins mitbekommen. Zum Beispiel einen Mann, der seine Unsicherheiten zeigt, der zögert, der Fragen hat, der Angst eingesteht, der auch einmal weint. Einen Mann, der in einem Glücksmoment derart emotional wird, dass er die Übersicht verliert. Einen Mann, der dienende Arbeiten erledigt, der musische und kreative Tätigkeiten pflegt und so weiter.
Wie also müssen sich Männer verhalten, damit sie "gute Männer" sind, vor allem in der Beziehung zu Jungen? Welche Art Mann nützt den Buben von heute bei ihrer männlichen Identitätsfindung? Sind es die alten Männerideale oder sind es die Männer mit neuen Idealen? Die Antwort heisst: beides. Und das Wichtigste: Persönlichkeit und Ehrlichkeit sind gefragt. Denn wer sich vor lauter Sorge, ob er nun das richtige Vorbild abgebe, krampfhaft abmüht, kann nicht ernst genommen werden.
In diesem Zusammenhang muss auf ein Missverständnis hingewiesen werden: Es kann nie darum gehen, dass Buben und Männer aufbrechen müssen, um ihre "weiblichen" Seiten zu entdecken. Reinhard Winter und Gunter Neubauer1 schreiben dazu: "Wenn ein Mann zärtlich ist, dann ist er zärtlich als Mann. Wenn ein Junge trauert, Angst hat oder sich schämt, tut er das als Junge. Weichheit, Verletztsein, Angst, Scham, Trauer, unterliegen, sich unterwerfen und Genuss, Lust, Zärtlichkeit oder eine breite Vielfalt von Sexualität - das alles sind keine weiblichen, sondern männliche Seiten."
Statt Vorbild: vorahmen
Kinder ahmen nach. Folglich gibt es um sie herum Menschen, die vorahmen. Dieser Begriff ist uns zwar nicht geläufig, aber er würde eigentlich gut beschreiben, worum es geht. Besser jedenfalls als der Begriff "Vorbild". Ein Vorbild sein? Das tönt anstrengend und statisch. Vorahmen geschieht in den Alltagssituationen, auch dann, wenn wir es uns gar nicht extra vornehmen.
Oft wird gefordert, dass die Männer mit den Jungen mehr "machen" müssten. Doch ist es das wirklich? Bestätigen sie damit nicht gleich wieder das alte Bild von den Machern? So kennen wir es doch bereits: Wenn der Mann da ist, wird etwas unternommen, dann läuft etwas. Bei genauerem Hinsehen wird es offensichtlich: Der "normale Alltag" ist ebenso wichtig wie die geplante Unternehmung mit den Buben. Prägend für das Bild vom Mannsein (und vom Frausein) sind jene Zeiten, während denen sich die Erwachsenen nicht ausdrücklich mit den Kindern beschäftigen, sondern in Anwesenheit der Kinder alltägliche Dinge tun: putzen, waschen, bügeln, am PC arbeiten, lesen, Medien konsumieren, einkaufen, kochen, eine Lampe flicken, Auto lenken, Velo putzen, Nachbarschaftsdienste leisten, mit Verwandten telefonieren und vieles mehr. Es tönt banal, ist aber leider alles andere als selbstverständlich: Wir müssen die Zeiten ausdehnen, zu denen der Junge einen erwachsenen Mann erlebt. Dabei reicht es vollkommen, wenn sich beide mit ihren Dingen beschäftigen.
In den letzten Jahren wird mehr und mehr anerkannt, dass familienergänzende Kinderbetreuung oder Spielgruppen einen günstigen Einfluss auf die soziale und seelische Entwicklung von Kindern haben. Dabei rückt allerdings eine krasse Einseitigkeit zu selten ins Blickfeld: In der Kinderbetreuung sind fast nur Frauen tätig. Dasselbe Bild im Kindergarten, und zunehmend auch in der Primarschule. Eltern und Kinder können das Personal in Krippe, Kindergarten oder Schule in den seltensten Fällen wählen. Aber Männer können sich für einen solchen Beruf oder für teilzeitliche Berufstätigkeit entscheiden - auch ohne Vaterpflichten. Dann können auch sie private Kinderbetreuungsdienste übernehmen oder als Freiwillige bei Freizeitaktivitäten mitwirken. Und für Eltern von Buben lohnt es sich nachzufragen, Alternativen zu prüfen: Wo sind hier eigentlich die Männer?
*Feix Wettstein-Tschofen ist Dozent an der Fachhochschule Aargau Nordwestschweiz, Soziale Arbeit und Vorstandsmitglied des Netzwerkes Schulische Bubenarbeit sowie Präsident der Kinderlobby Schweiz.
1 Reinhard Winter, Gunter Neubauer: Dies und das. Das Variablenmodell "balanciertes Junge- und Mannsein" als Grundlage für die pädagogische Arbeit mit Jungen und Männern. Neuling Verlag, Tübingen 2001, Seite 26.
