Friedfertige kommen in den Himmel, Gewalttätige überallhin

Von Jürgmeier
Sie haben den ungleichen Wettlauf im Film "Stand by me" gewonnen und sind, zu Fuss, vor den Jungs im schnittigen Cabrio bei der Leiche angekommen. Und dann sitzt einer der kleinen Sieger, durch den steifen Körper an seinen verstorbenen Bruder erinnert, da und flennt. Auf das tröstend gemeinte "Du wirst einmal ein ganz Grosser" eines Kumpels spricht er aus, was ein Bub auf dem Weg zum Mann werden muss: "Hart im Nehmen." Oder wie es Kody, das Mitglied einer Strassengang in Los Angeles formuliert: "Ohne Gewissensbisse töten und ohne Angst sterben."

Auch wenn fortschrittliche Mütter und Väter immer wieder beklagen, sie kämen nicht gegen Hormone und Gene an: Mann wird nicht als "Mann" geboren. Zum "Mann" wird mann gemacht. Weil der kleine biologische Unterschied gesellschaftlich überhöht und zur Geschlechterdifferenz ausgeweitet wird, ist männliche (und weibliche) Identität so brüchig. Immer droht "dem Mann" der Absturz ins Nicht-Männliche, "Weibliche". "Kleiner Schwuler", beschimpft einer der Jungs den anderen. Der gibt zurück: "Geh nach Hause und treib's noch ein bisschen mit deiner Mutter!"

Das "Konzept Mann" ist ein Gegenkonzept zu den Unberechenbarkeiten des Lebens. Das Unkontrollierbare wird auf "die Frau" projiziert, die damit zum "Feindbild Frau" wird, zu all dem, was der real existierende Mann nicht sein darf - von Zuwendung abhängig, hilflos und ängstlich. "Ich habe keine Angst, weil ich stärker bin. Das nenne ich Mann." Erklärt der ehemalige Ausbildner einer Antiterroreinheit. Das ist der Kern männlicher Sozialisation - die Verdrängung der "unmännlichen" Angst.

Für den Buben, der, besonders in "modernen", vaterlosen Gesellschaften, in weitgehend weiblich dominierten Häusern, Kindergärten und Unterstufenschulhäusern "gross" wird, aber seinerseits "das Andere", ein "Mann" werden muss, bedeutet "Mann sein" in erster Linie, nicht "Frau" sein. "Meine Kumpels wurden zu meiner Familie, die älteren zu Ersatzvätern. Sie gratulierten mir jedes Mal, wenn ich auf jemanden geschossen hatte... Zu Hause wurde ich zusammengeschissen, weil ich den Müll nicht rausgebracht hatte. Den Müll. Kapierte Mom denn nicht, wer ich war?", erzählt "Monster Kody". Hier wird das patriarchale "Konzept Mann" deutlich sichtbar. Es ist gekennzeichnet durch die gewaltsame Abgrenzung vom weiblich besetzten Haus, von der durch die Mutter verkörperten Geringschätzung männlicher Grandiosität und der ebenfalls aufs Weibliche projizierten Banalität des Lebens - Müll eben.

Das Allmachtskonzept "Mann" bringt den real existierenden Mann in eine heikle Lage: Da sind, zum einen, seine alltäglichen Schwächen und Ängste; da ist, zum anderen, dieses "Konzept Mann", an dem er zu zerbrechen droht, weil es das "Über-Menschliche" verlangt. Zur Überwindung dieses Grabens greift "der Mann" nicht selten zum "Zauberstab der Gewalt". Männer üben - von New York bis Zug, von Erfurt bis Bagdad - sehr viel häufiger Gewalt aus als Frauen. Zwar greifen auch Frauen zur Gewalt. Aber sie werden dadurch nicht zur "Frau". Gewalt macht "Männer". Und der Friedfertige erscheint in der patriarchalen Inszenierung als lächerlicher Trottel. Allerdings: Männer sind auch häufiger Opfer von Gewalt. Aber die Geschlechtervorurteile bringen uns dazu, "den Mann" als Täter zu sehen, "den Mann" als Opfer zu übersehen. "Entweder jemand ist Opfer. Oder er ist ein Mann." (Hans-Joachim Lenz in "männer.be"). Deshalb holen sich Männer und Knaben häufig Aufmerksamkeit und Hilfe, indem sie zu "Opfertätern" werden, das heisst, sie weisen durch "Verhaltensstörungen", Kriminalität und Gewalt auf ihre Hilfsbedürftigkeit hin beziehungsweise versuchen, sie dadurch zu kaschieren.

Inzwischen sind auch die grossen Jungs mit dem Auto angekommen und machen ihren Anspruch auf den Toten geltend. Es kommt zum grossen Showdown. Mit einem Pistolenschuss macht sich der Bub, der eben noch ein heulendes Kind war, zum Herrn der Situation. "Du kannst mich mal am Arsch lecken, du billiger Vorstadtgauner", brüllt er den Anführer der anderen Gruppe an. Ganz "Mann".

*Jürgmeier ist Schriftsteller, Erwachsenenbildner (u.a. Leitung von Männergruppen), Berufsschullehrer. Letzte Veröffentlichungen: Der Mann, dem die Welt zu gross wurde, 2001: Lectura-Verlag, Nürnberg; Staatsfeinde oder SchwarzundWeiss - Eine literarische Reportage aus dem Kalten Krieg, 2002: Chronos-Verlag, Zürich.  

(c) Jürgmeier,25. September 2002 www.wort.ch
 


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