Was ist das denn, ein Mann?

Männer werden zu Männern gemacht...

Von Lu Decurtins*
Jungen werden nicht einfach zu Männern. Jungen werden zu Männern gemacht! Das heisst natürlich nicht, dass wir nicht (in den allermeisten Fällen) mit einem klar definierten Geschlecht zur Welt kommen. Doch WIE sich das Geschlecht prägt, welche Eigenschaften entwickelt werden, das steht in direktem Zusammenhang mit sozialisatorischen Einflüssen, die wiederum von der Gesellschaft geprägt werden. Zum Beispiel, dass wir mathematisches Denken oder Durchsetzungsvermögen eher mit dem männlichen Geschlecht in Zusammenhang bringen hat weniger mit biologischen Gegebenheiten zu tun als vielmehr mit dem in unserer Gesellschaft vermittelten Geschlechterbild. Dieses Geschlechterbild wirkt lebenslänglich auf uns als "kulturelle Wesen" - je nach Umfeld und Kultur jedoch auf unterschiedliche Weise. Das Geschlechterbild reproduziert sich in Werbung, Film, in (Lehr-)büchern wie auch in Peergroups - es ist von Menschen geschaffen und somit auch von Menschen veränderbar.

Bei der Entwicklung eines Buben zum Mann spielen nebst dem gesellschaftlichen Geschlechterbild natürlich primär auch verschiedene direkte Bezugspersonen eine Rolle. Dies sind beim Jungen für den Faktor Geschlecht (Gender) vor allem die Männer. Solche Männer, die in Kontakt mit dem Buben treten, prägen die Geschlechtsidentität des Buben und dies - obwohl auch sie in unserer Gesellschaft als Mann sozialisiert wurden - viel vielschichtiger und facettenreicher als indirekte, öffentliche "Vorbilder". Doch welche Männer tun dies wirklich? Welcher Mann - mal abgesehen vom Vater - kümmert sich um (kleine) Buben? Wo ist der Tagesvater, der Krippenleiter, Kindergärtner, Primarlehrer, der dem Jungen vorlebt, was ein Mann ist? Meist gibt es wenige bis keine solchen Figuren im Leben eines kleinen Buben - und oft ist auch der Vater weitgehend inexistent im "normalen Tagesablauf", der meist deckungsgleich mit den "normalen Arbeitszeiten" des Vaters ist. Die männliche Sozialisation ist heute in unserer Gesellschaft während langer Zeit geprägt durch die Abwesenheit von männlichen Bezugspersonen. In der "vaterlosen Gesellschaft" gibt der Vater - ob in intakter Familie oder geschieden spielt hier eine marginale Rolle - meist ein schwaches Vorbild ab. Er ist wegen "ganz wichtiger Dinge" (Geld verdienen) ausser Haus. Wenn er heimkommt, übernimmt er nur sehr spezifische Bereiche (vom "strafenden Vater" bis zum "Freizeitvater"). Andere männliche Bezugspersonen treten entweder gar nicht oder in ähnlich einseitigen Rollen auf.

Plakative Modelle vom Mannsein

Doch sind Männer auf andere Art sehr präsent im Leben eines Jungen: Sie übernehmen sichtbare Rollen im Alltag (DER Bauarbeiter, DER Zugführer, DER Bankdirektor) und treten in Filmen, Werbung etc. auf - oder als Kollegen bzw. ältere "Vorbilder" im Schule und Freizeit. Vor allem in Momenten der Verunsicherung wird sich der Junge mangels Bezug zu realen Männern an die deutlichsten und plakativsten Ausprägungen der Männlichkeit halten - er wird sich die herrschenden Prinzipien des Mannseins zu verinnerlichen versuchen (vgl. Kasten unten).

Die ihm nicht entsprechenden Eigenschaften verunsichern ihn und er wird sie negieren, aus Angst, als "Nicht-Mann", als "schwul" oder "weibisch" zu gelten. So interessieren die "Männerbilder" vom Marlboro-Man, über Michael Schumacher zu Eminem weit mehr als Vorbilder, die eine "durchbrochene" Männlichkeit demonstrieren - ähnlich, wie sich Mädchen überweiblich anziehen und schminken, in Anlehnung an Britney Spears oder Jennifer Lopez. Es entsteht ein rigides und einseitiges Männerbild, das abweichenden Lebensentwürfen das "Zertifikat Männlichkeit" vorenthält. In dem Moment, wo ein Boris Becker Schwäche, Menschlichkeiten zeigt, ist er als Idol nicht mehr zu gebrauchen; so geschehen beim Vater werden oder während der Scheidung. Diese Aspekte werden auch kaum wahrgenommen.

Die Abwehr des Weiblichen

Die Orientierung an den gesellschaftlichen Normen traditioneller Männlichkeit ist also insofern problematisch als sie zu Verdrängung und Abspaltung von Persönlichkeitsmerkmalen führt, die mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht werden könnten. Das Verlangen nach Schutz und Geborgenheit und Trost muss ebenso verleugnet und abgewehrt werden, wie auch Gefühle von Angst, Schwäche, Verletztheit und Hilflosigkeit. Irgendwann wandert der Teddybär eben in den Estrich und dabei aufkommende Tränen werden tapfer im Keim erstickt. Die Abwehr vom Weiblichen manifestiert sich jedoch nicht nur im Innenleben: Dominanzgebaren, Verabscheuung und Abwertung von Mädchen lassen sich auf jedem Pausenplatz unschwer beobachten. Aus Angst, weibisch, unmännlich oder schwul zu gelten, inszeniert in der Gruppe Gleichaltriger ein jeder seine Männlichkeit. Dies ist der Beginn eines "Doppellebens", das fast jeder Mann kennt: Zu Hause liebevoller Familienvater, draussen knallharter CEO. Oder: Zu Hause galanter Partner, draussen grobschlächtiger Frauenverachter.

Es braucht Männer, um das Mannsein zu erlernen

Die Abwehr des Weiblichen hat noch eine weitere Funktion: In Ermangelung männlicher Bezugspersonen "ahnt" der Junge höchstens, was den Mann wirklich und zutiefst ausmacht. Nebst Nachahmung plakativer Bilder von Männlichkeit bleibt ihm noch ein weiterer (scheinbarer) Ausweg: Männlich - so folgert er unbewusst - männlich ist alles, was nicht weiblich ist. Alles was er von Mutter, Schwester oder anderen Bezugspersonen als weiblich erlebt, ist eben nicht männlich.

Es fehlen den Jungen in unserer Gesellschaft spürbare Männer, die ihnen bestätigen, dass "ihre Männlichkeit" eine "gelingende Männlichkeit" sein kann. Es nimmt sie kein Mann mittels Initiationsritual in die Männergesellschaft auf. Oft springt die Peergroup in die Lücke: Mittels "Mutproben" wie delinquentem oder selbstgefährdendem Verhalten erklären sich dann Jungen und männliche Jugendliche selbst und gegenseitig zu Männern. Jungen sind in hohem Mass gefährdeter, bis zum zwanzigsten Lebensjahr an einem Unfall zu sterben, als Mädchen.

Männlichkeiten

Bei Jugendlichen und Männern in sozial schwachen Positionen sind wir oft mit starken Ausprägungen der "Männlichkeitsdarstellung" konfrontiert. So ist es unmöglich, solche Ausdrücke von Männlichkeit (Gewalt, Kriminalität, Risikoverhalten etc.) zu unterbinden oder zu umgehen, ohne demjenigen eine annehmbare Alternative anzubieten. Selbstreflexion und Austausch über die eigene männliche Sozialisation hilft, die Situation, die Wünsche und Probleme des Klienten zu erkennen und adäquat darauf reagieren zu können - im anderen Fall werden wir blind sein auf dem "Gender-Auge" - geblendet durch eigene Männlichkeits- (oder Gegenmännlichkeits-) Prinzipien. So ist es immens viel wert, wenn männliche Bezugspersonen eine Männlichkeit vorleben können, die von den "Prinzipien des Mannseins" abweichen, ohne sie zu negieren, wenn sie Männlichkeiten thematisieren und den Jugendlichen und Männern eine Reflexion und einen Austausch ermöglichen über ihre eigene und andere Männlichkeiten.

Die vorgeschriebene Männerrolle in unserer Gesellschaft wird heute von allen Seiten in Frage gestellt. Verunsichert durch Frauenbewegung, berufliche Entwicklung und medizinische Machbarkeiten fragen sich heute immer mehr Männer: "Wann ist man ein Mann?" - "Was macht mich aus als Mann?" - "Wann und wie fühle ich mich als Mann?" - "Was ist meine Aufgabe als Mann?" - "Klar, der Macho hat ausgedient, doch von Zeit zu Zeit ein wenig...? Softies brauchen wir nicht mehr, aber einfühlen muss Mann sich können."

Neue Modelle, an denen sich Männer orientieren können, gibt es noch kaum. Statt dessen schleichen sich immer wieder alte Bilder ein, die nicht bewusst sind und daher blockieren.

Geschlechtsbezogene Männer- und Bubenarbeit soll helfen, sich von diesen Bildern als Zwangsjacke oder versteckte Fallen zu lösen. Sie soll Männern ermöglichen, frei und selbstbestimmt mit den gesellschaftlich geprägten "Prinzipien des Mannseins" umzugehen - ähnlich wie der Musiker oder die Musikerin alte Formen "zitiert" in einem Freejazzstück.

*Lu Decurtins ist Buben- und Männerarbeiter, Sozialpädagoge und Supervisor

Prinzipien des Mannseins, die die Sozialisation beeinflussen

Einsamkeit

Kennen Sie das Bild des "Lonesome Cowboy"? Es hat etwas Wehmütiges an sich, etwas tief Ernsthaftes und Freies. Viele Männer reagieren auf Traurigkeit und Verletzung mit Rückzug. Doch schöpfen sie meist nur scheinbar Kraft aus trotziger Einsamkeit.

Gehemmte Emotionalität

Viele Männer haben Probleme damit, ihre ("unmännlichen") Gefühle wahrzunehmen und sie anderen, insbesondere anderen Männern mitzuteilen. Da das Äussern von Gefühlen dem männlichen Leitbild rationaler Lebensführung widerspricht und zudem die Gefahr in sich birgt, anderen die eigenen Schwächen, Ängste und Verletzlichkeiten zu eröffnen, wird das eigene Gefühlsleben entweder verdrängt, nach aussen verlagert oder intellektualisiert. So bleibt das eigene Innere dem Mann verschlossen.

Rationalisierung

Es gilt oft nur, was rational erklärbar ist. Diese Devise kann hinderlich sein und ganze Welten verschliessen. Angst vor "Gefühlsentscheiden" verbauen oft die wirklichen Veränderungen. Die Forderung nach rationaler Erklärung verhindert oft eine ganzheitliche Wahrnehmung.

Stummheit

Nahe zu Einsamkeit und gehemmter Emotionalität gehört die Stummheit. Damit ist nicht eine allgemeine Stummheit gemeint - Männer reden oft viel und gerne, sondern das Unvermögen, die eigene Befindlichkeit zu kommunizieren. Das heisst: Wenn überhaupt eine Verletzung wahrgenommen wird - wie kann sie zum Ausdruck gebracht werden, wenn die Worte fehlen?

Vernachlässigung der Gesundheit

Das Verhältnis vieler Männer zu ihrem Körper und ihrer Gesundheit hat instrumentellen Charakter. Der Körper wird als Maschine wahrgenommen, die zu funktionieren hat. Männer sorgen sich weniger um ihre Gesundheit, gehen mehr gesundheitliche Risiken ein und nehmen körperliche Symptome oft ernst in einem fortgeschrittenen Stadium wahr. Desgleichen werden psychische Probleme nicht wirklich erst genommen. Probleme zu haben, passt nicht ins Bild vom "richtigen Mann", der alles unter Kontrolle hat. Viele Männer nehmen den eigenen Körper erst wahr, wenn sie an die Grenze gehen, oder wenn sie diese bereits überschritten haben. Das Beachten des Körpers, die entsprechende Körperpflege ist vielen Männern fremd. Oft "verschlampen" männliche Jugendliche in einer Zeit, da den Mädchen der Körper extrem wichtig ist. Weitere Beispiele sind Themen wie HIV-Risikoverhalten, Extremsport oder Herzinfarkte und Zusammenbrüche.

Leistungs- und Erfolgsstreben

Traditionelle Männlichkeit zeichnet sich durch Leistung und Erfolg aus. Über einen umfangreichen Leistungsausweis zu verfügen und in Wettbewerbssituationen als Sieger hervorzugehen, ist für viele Männer bestimmend dafür, welchen Wert ihnen als Person zukommt. Die eigenen Leistungsziele nicht zu erreichen und anderen unterlegen zu sein, wird daher als ein Versagen wahrgenommen und beeinträchtigt das männliche Selbstwertgefühl auf empfindliche Weise.

Soziale Dominanz

Der Kontrolle über das eigene Gefühlsleben entspricht auf zwischenmenschlicher Ebene das Bedürfnis, über andere Kontrolle auszuüben. Die Einnahme eines Status, der mit Macht und sozialer Anerkennung verbunden ist, ist für viele Männer zentrales Lebensziel. Demgegenüber schlägt sich die Einnahme eines sozial untergeordneten Status und die Erkenntnis, von anderen abhängig zu sein, bei vielen Männern negativ auf ihr Selbstwertgefühl nieder.

Aggressivität und Gewalt

Gewalt macht Männer - dies erstaunt nicht, da physische Aggression nicht selten als Mittel dazu dient, um sich gegenüber anderen zu behaupten und als Zeichen männlicher Stärke gilt. Aggression und Gewalt wird oft gebraucht, um "unangenehme" Gefühle wie Angst, Verletzung und Trauer abzuwenden.

Gewalt richtet sich oft auch gegen das eigene Geschlecht, dies jedoch (Männerunterdrückung) wird kaum wahrgenommen, da Männer als Opfer den oben beschriebenen Prinzipien zuwiderlaufen würden.

(ld)
 

 

 

 

Leitziele der Männer- und Bubenarbeit

Aus den "Prinzipien des Mannseins" entwickeln sich die folgenden Leitziele:

Bezug herstellen

Bezug zu anderen Männern herstellen helfen. Arbeit oft in Gruppen. Helfen, das soziale Netz zu "verselbständigen" und auszubauen.

Gefühle wahrnehmen

Gefühle erkennen und wahrnehmen lernen. Entdecken der Qualitäten übergangener Gefühle.

Gefühle ernst nehmen

Erfahrungen ermöglichen, bei denen die Wahrnehmung des Inneren zu Entwicklung führt.

Kommunikation verbessern

Üben, dem eigenen Innenleben Worte zu geben, sich auszudrücken im Kreise anderer Männer. Die Streitkultur verbessern.

Körperwahrnehmung schulen

Die Körperwahrnehmung schulen - vor dem Grenzbereich. Wie äussern sich Müdigkeit, Wut und Trauer in meinem Körper?

Alternative Lebensmodelle

Unterstützung bei Umbewertungen. Helfen, selbstschädigende Ziele zu modifizieren. Entwicklung gegenüber Aufstieg stellen.

Soziale Kompetenz

Werteüberprüfung in Gruppenarbeit. Wertschätzung vermitteln. Feedbackkultur, Konfliktverhalten.

Selbstwert

Durchsetzungsmöglichkeiten entwickeln zwischen Gewalt und Ohnmacht. Streitkultur entwickeln. Umgang mit Abwertung und Ohnmacht lernen.

(ld)


Zwischen Teddybär und Supermann

Jungen sind schwierig, cool, frech und gewalttätig. Jungen sind sensibel, einfühlsam und zeigen Emotionen. Ja - was denn nun? Was ist ein "richtiger Junge" überhaupt? Und wie können Väter und Mütter bei der Erziehung besser auf Jungen eingehen?

Jungen sind anders als Mädchen - aber auch anders als das Klischee, das man von ihnen hat. Das zeigen nur schon die Biographien der Autoren, die im Buch vorgestellt werden. Neben Porträts von Jungenmüttern und -vätern in verschiedensten Familienkonstellationen erhalten Eltern in diesem Buch praxisbezogene Antworten auf folgende Fragen: Was erlebt ein Junge heute auf dem Weg vom kleinen Knaben zum erwachsenen Mann? Welche Rolle spielen die Eltern in dieser Entwicklung, welchen Einfluss hat die Schule auf sie? Wie wird das Rollenverhalten von Jungen geprägt durch die Männer in ihrer Umgebung - und wie durch die Frauen? Wie sollen Väter und Mütter mit der Körperlichkeit ihres Jungen umgehen, wo braucht es Abgrenzung, wo Zuwendung? Weitere Themen des Buches sind der Umgang von Jungen mit ihren Gefühlen, Jungen und Gewalt, Jungen als Opfer von (sexueller) Gewalt, Homosexualität und Homophobie, Jungen zwischen zwei Kulturen, Aufklärung und Pubertät.

Lu Decurtins (Hrsg.): Zwischen Teddybär und Supermann. Was Eltern über Jungen wissen müssen.

verlag pro juventute, 2002, Fr. 22.80, erhältlich im Buchhandel oder direkt bei: Bestellservice verlag pro juventute, Bookit AG, Postfach, CH-4601 Olten, Tel: 062 209 49 00, Fax: 062 209 49 09, E-Mail: bookit@sbz.ch


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