Irak als Präzedenzfall künftiger Präventivkriege

Von Clemens Ronnefeldt*
Die Zusage Bagdads, UN-Inspekteure wieder im Irak zuzulassen, hat den Zeitplan der US-Regierung für einen Anfang des Jahres 2003 vorbereiteten Krieg gehörig durcheinandergebracht. Georg W. Bush möchte im UN-Sicherheitsrat eine scharfe Resolution verabschiedet haben, die allerdings von anderen Sicherheitsratsmigliedern derzeit nicht mehr für notwendig erachtet wird.

Anfang Oktober wurden die Gespräche zwischen dem Leiter der UN-Waffeninspektoren, Hans Blix, mit irakischen Regierungsvertretern in Wien beendet, die sich um Fragen der Rückkehr der Inspekteure drehten. Ende Oktober könnten dann laut UN die ersten Teams im Irak sein, Ende Dezember die letzten. Weitere 60 Tage hätten diese dann Zeit, im Detail festzulegen, welche Anlagen gezielt untersucht werden. Nach diesem Zeitplan würden die UN-Inspekteure mit ihrer eigentlichen Arbeit möglicherweise erst im März beginnen und im August 2003 dem UN-Sicherheitsrat den Abschlussbericht vorlegen. Wenn die UN-Teams erst einmal im Irak sind, könnte die US-Regierung allein schon aus Rücksicht auf deren Sicherheit nicht mit einem Krieg beginnen.

Irak verfügt nachweislich über die zweitgrössten Erdölreserven der Erde. Wenn es der US-Regierung gelingen sollte, eine US-freundliche Regierung in Bagdad zu installieren, würde im Anschluss daran dank neu ins Spiel gebrachter angloamerikanischer Erdölkonsortien sicherlich die Ölproduktion Iraks enorm angehoben. Dies würde die derzeit noch unangefochten dominierende Rolle Saudi-Arabiens auf dem Ölmarkt sowie die Rolle der OPEC insgesamt erheblich schwächen. Ein Angriff auf Irak zielt neben der Schwächung Saudi-Arabiens auch auf die Eindämmung Irans, wobei Washington beide Länder bezichtigt, den internationalen Terrorismus zu fördern.

Im Vorfeld der Bombardierung Afghanistans wurde noch der Versuch gemacht, die Völkerrechtswidrigkeit des konkreten Vorgehens zu kaschieren, indem der NATO-Bündnisfall ausgerufen und die UNO einbezogen wurde. Heute stellt der drohende Irak-Krieg ein neues Phänomen dar: den willkürlichen Präventivkrieg. Jörg Fisch, Geschichtsprofessor an der Universität in Zürich, bezeichnete in der Weltwoche den angekündigten Irak-Feldzug als verbotenen Angriffskrieg und als internationales Verbrechen.

Hinter der Irak-Politik steckt eine militarisierte Aussenpolitik

Am 2. Juni 2002 verlangte Präsident Georg W. Bush in einer programmatischen Rede vor Absolventen der US-Militärakademie West Point, "jederzeit bereit zu sein, um ohne Zeitverlust in jeder dunklen Ecke der Welt zuschlagen zu können. Unsere Sicherheit verlangt von allen Amerikanern, resolut nach vorn zu schauen und bereit für präventive Schläge zu sein, wann immer das notwendig ist, um unsere Freiheit und unser Leben zu verteidigen". "Der Krieg gegen den Terror wird nicht in der Defensive gewonnen", so der US-Präsident, "wir müssen die Schlacht auf dem Boden der Feinde führen, ihre Pläne vereiteln und den schlimmsten Bedrohungen begegnen, bevor sie auftauchen." Diesen Worten lassen derzeit verschiedene grundlegende US-Militärstrategien Taten folgen.

Die neue Aufteilung der Welt unter US-Kommandos

Am 17. Juli 2002 veröffentlichte die Los Angeles Times Auszüge aus den neuesten Richtlinien zur Verteidigungsplanung (Defense Plannig Guidance) für die Jahre 2004 bis 2009. Bisher gingen die US-Militärplanungen davon aus, zwei grosse Kriege an unterschiedlichen Orten gleichzeitig führen zu können. Mit dem neuen Dokument wird erstmals betont, an jedem Ort der Welt "die Initiative zu ergreifen" und mit "nicht erwarteten Angriffen" Gegner künftig zu überraschen.

Am 1. Oktober 2002 wurde die Welt neu aufgeteilt. Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es keinen Winkel der Erde mehr, der nicht unter einem der nationalen Militäroberkommandos der USA steht. Für die Verteidigung Nordamerikas wird ein militärisches Oberkommando (NORTHCOM) völlig neu eingerichtet. Die Zuständigkeit des Oberkommandos Europa (EUCOM), dem bereits jetzt der grösste Teil Afrikas untersteht, wird künftig erstmals auch den ehemaligen Konkurrenten Russland umfassen. Zum Pazifischen Oberkommando (PACOM) kommt die Antarktis hinzu. Unverändert bleiben die Zuständigkeiten für Mittel- und Südamerika (SOUTHCOM) sowie für Nordostafrika, Persischer Golf, Zentralasien und Pakistan (CENTCOM).

Rüstungsaktien - längerfristig eine sichere Anlage

"Wenn der irakische Diktator Saddam Hussein wissen will, wie lange er voraussichtlich noch an der Macht sein wird, dann muss er dreierlei im Auge behalten: amerikanische Meinungsumfragen, die Kurse an der Wall Street und den Sitzungskalender von Senat und Repräsentantenhaus: Denn US-Präsident George Bush wird seinen immer wieder angekündigten Angriff auf Bagdad letztlich von innenpolitischen und wirtschaftspolitischen Faktoren abhängig machen", begann Wolfgang Koydl seinen Artikel "Bereit fürs Abenteuer in Bagdad"(1).

Nach Enron- und Worldcom-Konkursen stehen Vizepräsident Cheney als ehemaliger Chef des weltweit grössten Ölindustriezulieferers "Halliburton" wie auch Georg W. Bush als ehemaliger Top-Manager des Öldienstleistungsunternehmens "Harken Oil" wegen Bilanzfälschungen und ihrer Verwicklung in Insidergeschäfte in der öffentlichen Kritik - und vor den Kongress-Zwischenwahlen im November 2002 unter enormem Druck.

Bereits am 22. April 02 berichtete die Frankfurter Rundschau, dass die US-Rüstungsindustrie "einen Boom wie seit 20 Jahren nicht mehr" erlebt und führte aus: "Sollten die Pläne für eine Militäroffensive gegen Irak wahr werden, kann die US-Rüstungsindustrie auf weitere Wachstumsimpulse hoffen. Rüstungsaktien sind nach Einschätzung von Experten in jedem Fall auf längere Sicht eine sichere Anlage. Allein bei den vier Branchenriesen Lockheed Martin, Northrop Grumman, Raytheon und General Dynamics stiegen die Aktienwerte seit den Anschlägen vom 11. September zusammen um 44 Prozent. Nicht nur, dass der Krieg kurzzeitig die Produktion ankurbelt, indem es Nachschub an Bomben, Ersatzteilen und sonstigen Rüstungsgütern braucht. Vor allem ist es die Hoffnung auf eine längerfristige Serie lukrativer Aufträge, die die Aktienkurse ‹dramatisch› in die Höhe schiessen lassen, sagt Paul Nisbet von JSA Research, einem Forschungsinstitut der Luftfahrtbranche. Der Afghanistankrieg hat die Waffenarsenale an mancher Stelle weitgehend geleert, so dass jetzt erst einmal nachgefüllt werden muss. So weitete Boeing in St. Charles/Missouri den Schichtdient aus, um die Produktion von JDAM-Präzisionssystemen für die ‹smart bombs› anzukurbeln. Derzeit sind die Vorräte so erschöpft, dass nach Meinung mancher Experten ein Angriff auf Irak gar nicht möglich wäre."

USA: Wirtschaftlicher Koloss auf tönernen Füssen

Der "Spiegel" erschien am 8.7 Juli 02 mit dem Aufmacher "Der neue Raubtierkapitalismus - Mit Gier und Grössenwahn in die Pleite", in dem Parallelen zwischen 1929 und 2002 hergestellt wurden. Der Titel beschreibt zutreffend die derzeitige Verfassung der US-Wirtschaft. Einer der führenden US-Ökonomen, Paul Krugmann, erklärte Anfang 2002, dass sich die Enron-Pleite einmal rückblickend als bedeutsamerer Wendepunkt für die US-Gesellschaft erweisen würde als der Einsturz des World Trade Centers. Wilfried Wolf wird nicht müde, immer wieder auf die Grunddaten der US-Wirtschaft hinzuweisen, so zum Beispiel in seinem Beitrag "Terror der Ökonomie", junge Welt, 27./28.7.02: Obwohl die USA weltweit rund die Hälfte aller Ausland-Direktinvestitionen tätigen, sieht es in der Gesamtschau derzeit sehr düster aus:

• Nach fünf Jahren Haushaltsplus schloss das US-Wirtschaftsjahr Ende September 2002 mit einem Minus von 165 Milliarden US-Dollar.

• Die per Gesetz auf 5590 Milliarden Dollar festgelegte Obergrenze für die öffentliche Verschuldung musste im Juni 2002 - mit Verweis auf höhere Gewalt - angehoben werden.

• Die Schulden der privaten US-Haushalte betragen aktuell 108% des Bruttoinlandprodukts, was einen Spitzenwert innerhalb der OECD-Staaten darstellt.

• Das Nettovermögen der privaten US-Haushalte, bereinigt um die Inflation, sank von einem Spitzenwert im ersten Quartal 2000 bis zum vorläufigen Tiefpunkt im 3. Quartal 2001 um 12,3% oder umgerechnet ca. 400 Milliarden Dollar, was 40% des Bruttoinlandproduktes entspricht.

• Wegen der weltweiten Konjunkturschwäche und der Abwertung des Dollars vergrösserte sich das US-Leistungsbilanzdefizit im ersten Quartal 2002 auf ein Rekordminus von 112 Milliarden Dollar. Schon seit vielen Jahren krankt die US-Wirtschaft daran, dass sie deutlich mehr Waren importiert als exportiert.

• Japanische Anleger halten rund ein Drittel aller US-Staatsanleihen. Hält die Wirtschaftskrise in Japan weiter an und wird dieses Kapital in Zukunft entweder an der asiatischen Heimatfront oder im zunehmend lukrativeren Euroland angelegt, gerät die US-Wirtschaft noch mehr ins Trudeln.

Während der US-Verteidigungshaushalt bis 2007 auf die astronomische Summe von 451 Milliarden US-Dollar angehoben werden soll, erwägen zurzeit 17 US-amerikanische Bundesstaaten, die Schulwoche auf vier Tage zu reduzieren, weil sie die Lehrkräfte nicht mehr bezahlen können.

Noch kann die europäische Politik gegensteuern

Wenn eine Macht die unheilvolle Politik der US-Regierung noch eindämmen und einen neuen Irakkrieg verhindern kann, dann vermutlich eine gemeinsame europäische Aussen- und Sicherheitspolitik in Abstimmung mit dem UN-Generalsekretär. Für die nächsten Jahre wird sehr viel davon abhängen, ob sich Tony Blair oder Gerhard Schröder mit ihrem jeweiligen Irakkurs behaupten können. Ob sich die kriegskritischen Stimmen in ihren jeweiligen Ländern durchsetzen werden, wird davon bestimmt sein, wieviel Druck und Widerstand aus den Reihen von Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Kirchen aufgebaut werden kann. Die Verhinderung des Präzedenzfalles Irak als Auftakt für vermutlich weitere Präventivkriege ist der grösstmöglichen internationalen Anstrengung wert.

 

*Clemens Ronnefeldt ist Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.
1 Süddeutsche Zeitung, 19.7.2002


Inhaltsübersicht nächster Artikel