Vergesst Tschetschenien nicht ((oder))

Die Toten von Tschetschenien zählen nicht mehr

In Tschetschenien herrscht seit acht Jahren Krieg und Terror. Unter dem Deckmantel der Rebellenbekämpfung können russische Soldaten praktisch ungestraft töten, plündern und zerstören. 200 000 Flüchtlinge leben unter erbärmlichsten Verhältnissen in Inguschetien,

Von Elisabeth Petersen*
"Ein Volk wird zertreten, ohne dass ein Finger sich rührt. Internationales Schweigen in bester Komplizenschaft. Keine klare und hörbare Verurteilung, kein politischer Druck, keine wirtschaftlichen Sanktionen, keine Strafverfolgung, nichts. Europa verneint sich selbst, indem es in freiwilliger Ohnmacht verharrt." Dieses Zitat stammt aus dem internationalen Aufruf zur Beendigung des Völkermordes in Tschetschenien aus dem Jahr 2000.(1)

Abgesehen von kurzen Unterbrechungen herrscht in Tschetschenien seit acht Jahren Krieg. Über 100000 Menschen starben im ersten Krieg (1994-1996), inzwischen sind es im zweiten Krieg (seit 1999) fast noch einmal so viele. 30000 gelten als verschollen. Städte, Dörfer, Schulen, Spitäler sind zerstört. Es gibt keinen Strom, kein sauberes Wasser. Die Menschen erleiden monatelange Bombardierungen. Selbst international geächtete Aerosol-, Vakuum- und Splitterbomben kommen zum Einsatz.

Die russischen Soldaten demonstrieren ihre Machtposition durch regelmässige Plünderungen, öffentliche Massenvergewaltigungen von Frauen und Männern. Immer und immer wieder verschwinden Menschen in Filtrationslagern. Diese Not und die Angst vor weiteren Übergriffen treibt Hunderttausende in die Flucht.

Keine Sanktionen für Russland

Das Morden in Tschetschenien ist kein Thema mehr, das die Welt bewegt. Auf den politischen Gipfeltreffen ist der Hinweis auf Tschetschenien, wenn überhaupt, nur noch ein Ritual: Keine Verurteilung durch die Menschenrechtskommission der UNO, kein Ausschluss Russlands aus dem Europarat, obwohl sich der ehemalige Europarat-Gesandte für Tschetschenien, Alvaro Gil-Robles, anlässlich eines Besuches Anfang 2001 erschüttert zeigte. Er habe ein Ödland von Geisterstätten, Hunger, Verzweiflung und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung vorgefunden. Russische Truppen agieren in Tschetschenien in einem rechtsfreien Raum. Todesschwadronen sind unterwegs. Seit dem 11. September 2001 hat sich die Situation im Kaukasus weiter verschlechtert. Die russischen Streitkräfte gehen nun weitaus brutaler gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung vor. Vladimir Putin hat als "strategischer Partner" Europas und Amerikas freie Bahn für das Hinschlachten des tschetschenischen Volkes bekommen. Die Toten von Tschetschenien werden nicht mehr gezählt. Was jedoch schlimmer ist - sie zählen auch nicht mehr.

Tradition des Widerstands gegen russische Herrscher

Die TschetschenInnen sind ein alteingesessenes Volk im Nordkaukasus, das bis heute in Clans organisiert ist. Tschetschenisch ist eine kaukasische Sprache, die nicht verwandt ist mit dem Russischen. Auf dem heutigen Territorium von Tschetschenien, das fast halb so gross ist wie die Schweiz, lebten vor dem Krieg rund 1,3 Mio. Menschen. Sie wurden erst im 16. Jahrhundert islamisiert. Seitdem sind die meisten tschetschenischen Stämme sunnitische Moslems, AnhängerInnen des sehr gemässigten Sufismus.

Sie widersetzten sich seit jeher der Eroberung durch Russland. Schon Iwan der Schreckliche scheiterte mit dem Versuch, die für Russland geopolitisch wichtige Kaukasus-Region zu befrieden. Der jahrhundertealte Widerstand gegen Moskau, der unvorstellbare Menschenopfer aus den eigenen Reihen forderte, setzte sich auch im Sowjetstaat fort. 1944 kam es auf Stalins Befehl zur Deportation der TschetschenInnen und InguschInnen nach Sibirien - unter dem Vorwand einer Kollektivstrafe für angebliche Kollaboration mit Hitler-Deutschland. Heute gibt es kaum eine tschetschenische Familie, die kein Opfer dieser Vertreibung zu beklagen hätte. Erst 1957 durften die Überlebenden aus Zentralasien in ihre Heimat zurückkehren. Grosny, die Hauptstadt Tschetscheniens, war vor dem Krieg mit 400000 Einwohnern die grösste Stadt des Kaukasus. Schon nach dem ersten Krieg bot sie ein Bild wie Dresden oder Coventry im Jahre1945. War dieser Krieg in Russland noch unpopulär, so schaffte es die Kremlregierung in einer Medienkampagne die Tschetschenen als "Kriminelle", "Gangster" und "VerbrecherInnen" zu diffamieren. Präsident Putin zog einige Popularität aus dem neu inszenierten zweiten Krieg.

Greueltat kommen nicht an die Öffentlichkeit

Zur Zeit spielt sich in Tschetschenien Grauenvolles ab. So berichtete kürzlich Andrei Babitsky, ein seit Jahren mit dem Krieg in Tschetschenien vertrauter Journalist, vor der Kommission für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), was er zwischen Semaschki und Achkoi-Martan im Herbst 1999 beobachtet hatte. Russische Soldaten eröffneten das Feuer auf zwei Autos, in denen sich drei Männer und zwei Frauen befanden. Die Männer wurden schwer verwundet. Die Soldaten fesselten sie mit Drähten und nach kurzem Beraten gossen sie Benzin über die Männer und zündeten sie an. Solche und ähnliche Vorkommnisse sind laut Babitsky keine Besonderheiten in diesem Krieg. Die Welt erfährt aber kaum davon. Über den Konflikt hat Moskau eine totale Nachrichtensperre verhängt. Ausländische JournalistInnen, die während des ersten Krieges kritisch berichteten, erhielten im letzten Jahr Landesverweis für fünf Jahre. Heute wird jede Information durch das offizielle Pressezentrum des Kremls und des Geheimdienstes FSB in Chankala gesteuert.

Nur so lassen sich vermutlich Aussagen wie die von Alt-Nationalrat Ernst Mühlemann erklären, der nach einem offiziell geführten Besuch in Tschetschenien in der Thurgauer Zeitung vom 2. März 2000 behauptete, er sei ein Mann des Augenscheins und Grosny sei nur im Kern zerstört. Wer je in Grosny war, weiss wie verhöhnend diese Aussage ist.

Die Kontrolle der Berichterstattung kann in Tschetschenien nur unter Lebensgefahr unterlaufen werden. JournalistInnen werden massiv bedroht. Erst kürzlich wurde einer Journalistin in Inguschetien angedroht, man werde ihr die Hände brechen, wenn sie das Land nicht verlasse(2). Erst diese Zensur erlaubt jene brutale Willkürherrschaft der plündernden und mordenden russischen Soldateska, die sich in Tschetschenien wie in einem rechtsfreien Raum bewegt.

Terrorismusbekämpfung als Deckmantel für Säuberungen

Die heisse Phase des Krieges ist inzwischen übergegangen in eine Art Guerillakrieg. Unter dem Vorwand der Rebellenbekämpfung durchkämmen die russischen SoldatInnen als eine Art Todesschwadronen regelmässig die tschetschenischen Dörfer. Nach Berichten der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" gibt es jeden Monat zwischen 30 bis 50 Fälle von Tötungen von Zivilpersonen im Rahmen dieser sogenannten Säuberungen (Zachistki). Die Soldaten kommen meist in der Nacht, führen in der Regel die Männer ab, vergewaltigen die Frauen, plündern, zerstören. Die Gefangenen werden gefoltert und aufs Schlimmste gedemütigt. Manchmal werden sie nach Wochen oder Monaten gefunden, selten lebend. Vielfach versuchen die Familien mit allem, was ihnen noch geblieben ist, ihre Verwandten wieder frei zu kaufen. Für einen Lebenden werden bis zu 5000, für einen Toten 1000 Dollar verlangt. Da sich in Tschetschenien verschiedene militärische Einheiten befinden und diese unabhängig und unkontrolliert voneinander vorgehen, finden solche Säuberungen oft mehrfach am gleichen Ort statt.

Flüchtlingsstopp in Inguschetien

In Inguschetien leben zur Zeit ca. 200000 tschetschenische Flüchtlinge. Dies stellt eine grosse Belastung für das Land dar, welches zirka 300000 Einwohner hat. Laut Statistik sind die meisten der Flüchtlinge in Privathäusern untergebracht. Dazu zählen alte Fabrikgebäude, Lagerhallen und Tierställe, meist ohne Licht, Heizung und Wasser. Die andern befinden sich in offiziellen Zeltlagern oder so genannten spontanen Lagern.

In den letzten Monaten zeichnete sich ab, dass die Flüchtlinge in Inguschetien zur Rückkehr gezwungen werden sollen. So erhielten die Neuankommenden keine Registrierung mehr. Gas, Wasser und Strom wurden immer wieder abgestellt. Für die Flüchtlinge ist zur Zeit eine Rückkehr aber ausgeschlossen. Es besteht keine Sicherheit in Tschetschenien.

Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge hat Mitte Juni dieses Jahres bei den russischen Behörden gegen die Schliessung von Lagern für Vertriebene in Snamenskoje protestiert. Die Vertriebenen wurden gewaltsam nach Grosny gebracht. Stanislaw Iliassow, der prorussische Regierungschef Tschetscheniens erklärte, Wladimir Putin habe die Schliessung der Zeltlager "vor dem ersten Kälteanbruch" angeordnet. Wer jemals die Ruinen Grosnys oder die verwüsteten Dörfer in Tschetschenien gesehen hat, weiss, was die Vertriebenen erwartet. Russland wird sich kaum intensiv mit dem Wiederaufbau Tschetscheniens befassen. Sollte Putin an seinem Plan festhalten, ist mit einer erneuten humanitären Katastrophe zu rechnen. 

"Rettet unsere Seelen! Helft uns mit Euren Worten! Bezeugt, dass das menschliche Leben und die Menschenrechte Euch immer noch etwas Wert sind. Und wenn Euch die Ehre etwas gilt, lasst nicht zu, dass Eure Führer Hände schütteln, die mit tschetschenischem Blut getränkt sind (...)". Diesen Appell, gerichtet an die Intellektuellen, PolitikerInnen und die Öffentlichkeit der europäischen Länder, haben über 60000 Menschen unterschrieben, was 10 Prozent der heutigen Bevölkerung Tschetscheniens entspricht. Blätter mit 20 000 Unterschriften wurden am 6. Juni 2001 Adam Sweed übergeben, dem Vertreter der SAEG in Europa, anlässlich einer Pressekonferenz in Moskau, die die Sacharow-Stiftung organisiert hatte. Am 28. November 2001 legte Ruslan Badalov bei den Hearings des Europarates in Strassburg Blätter mit weiteren 40000 Unterschriften vor. Er ist Präsident des Tschetschenischen Nationalen Olympischen Komitees und Vorsteher des von Flüchtlingen organisierten Tschetschenischen Nationalen Rettungs-Komitees. Auf diesen Appell erfolgte bis heute keine Antwort. Niemand will die lebenden Tschetschenen anhören. Vielleicht wird sich jemand der Toten erinnern.

* Elisabeth Petersen, Juristin und Lehrerin, lebt in Zürich und bereiste kürzlich die Region. Sie befasst sich insbesondere mit Menschenrechtsfragen und Friedensförderung.
1 Den internationalen Aufruf zur Beendigung des Völkermordes in Tschetschenien haben unter anderen unterschrieben :André Glucksmann, Günter Grass, Bernard Lévy, Andrei Babitzki, Elena Bonner, Wladimir Bukowski, Barbara Hendricks, Sheng Wei Jing, Klaus Staeck, Jean-François Revel, Elie Wiesel.

2 (A. Babitsky, Commission on Security and Cooperation in Europe, Hearing: Developments in the Chechen Conflict, May 9, 2002).


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