Manchmal kannst du in einem Augenblick ein Bild erhaschen, das eine verworrene Situation erhellt. Ein Licht fällt in einen dunkeln Winkel und du verstehst, wie die Geschichte begonnen hat, in deren tragische und letzte Phase wir eingetreten sind. Nahe der Strasse 365 nach Bethlehem, auf dem Weg nach Nokdim und Tekoa und andern Siedlungen wie Yossis Farm oder Maale Rehavam, steht auf einem Hügel ein Zelt. Im Herzen einer weiten arabischen Landwirtschaftszone Olivenbäume, Gräber, Quellen, alte Häuser im Herzen eines Dorfs namens Zaatara, steht das Zelt zuoberst auf einem Hügel. Es besteht aus Holzlatten, bedeckt mit Stoff und Teppichen, im Innern hat es Stühle und Brennholz für die Nacht. Auf den Plastikstühlen sitzen vier alte Männer, zwei halten Gehstöcke in ihren Händen.
Das Kies, das den Boden bedeckt, knirscht unter ihren Füssen. Es ist der Weg, den Israel mit einem Teerbelag versehen will. Die weisse und breite Strasse ist bereits mit Kies bedeckt. Sie wird zehn Kilometer lang werden, das Dorf und sein Land in Stücke reissen wie durch ein gewaltiges Erdbeben. Der Sprecher des Ministeriums für öffentliche Bauten lehnte es ab, mit uns über den "Bypass" einer "Bypass-Strasse" zu reden. Die Schnellstrasse wird 25 Millionen Schekel kosten und Nokdim mit Tekoa, Har Homa und Jerusalem verbinden. In Nokdim wohnt Avigdor Liberman, Minister für Infrastruktur1. Die Strasse führt vom Hügel mit dem Zelt, das jetzt als zerbrechliche Blockade im Weg steht, direkt hinunter in ein schmales, wunderschönes Tal. Dort befinden sich in Olivenhainen antike Gräber, Quellen, ein Wäldchen und Felsen. Libermans Strasse wird dies alles zerstören.
Dies mag als ein unwichtiges Thema erscheinen. Was bedeutet denn eine Strasse im Vergleich mit dem blutigen Krieg, der im Gange ist, oder das Zerstören von Feldern, wenn Menschen ermordet werden? Bagatellen. Aber genau an diesem ruhigen Ort, in diesem luziden Augenblick verstehst du, wie das Feuer gelegt und der Hass gesät wird, wie Wunden geschlagen werden, wie manchmal ein Mensch mit seinen Händen die eigene Katastrophe verursacht.
Die Strasse soll den Siedlern Sicherheit bringen. Sie haben genug von der Bedrohung, den Schüssen, der langen Umfahrungsstrasse. Die neue Strasse soll ihren Weg abkürzen, aber sie wird durch das Herz eines Dorfes führen, wo viele ihr Land und die Olivenbäume ihrer Vorfahren verlieren werden. Die Strasse wird Quellen und ein antikes Grab zerstören. Sie wird einen solchen Zorn verursachen, dass kein Reisender darauf sicher sein wird. Ein neuer Brennpunkt der Gewalt wird entstehen. "Wir sind friedliche Menschen", sagt mir ein alter Mann aus dem Dorf. "Jene, die bei Tekoa geschossen haben, gehören nicht zu uns. Aber wenn ihr uns zertreten wollt, sollen wir da nicht wütend werden? Sollen wir nicht explodieren... Es gab eine Vereinbarung zwischen Liberman und Sharon: Der eine unterstützt das Budget und der andere bekommt seine Strasse. Und wir werden unser Land verlieren und eine abgeschnittene Insel sein."
Die Männer unterhalten sich, ein Bursche bringt Kaffee. Die Protestfahne bewegt sich leicht im Wind. Wer hört schon in diesen Tagen einen Protest wegen Land? Wer kommt schon hierher, ausser den Bulldozern? "Ihr Israelis", sagt mir Salah Ta'mari, "ihr seid wie Zahnweh. Alles, was wir wollen, ist diese Zähne hier zu ziehen." Er zählt mit seinen Fingern mehrere kleine Siedlungen auf, die in letzter Zeit auf den Hügeln rundum aufgetaucht sind. Eine Farm, einige Wohncontainer und nun die Bypass-Strasse mitten durchs Dorf. "Das ist eine dumme Strasse", zitiert er Zeev Shif von der israelischen Tageszeitung Haaretz, der über die Torheit der Bypass-Strassen schrieb. "Die alten Strassen sind sicherer. Was sind das für Menschen, die diese Bulldozer im Frühling über blühendes Land steuern?", fragt Salah Ta'mari in ausgezeichnetem Englisch.
"Die Lage ist schrecklich", sagt ein Mann in einer grauen Jacke. Eine Stunde nach unserer Ankunft beginnt sich das Zelt zu füllen, als finde ein Familienfest statt. Dorfbewohnerinnen, Landbesitzer, Lokalpolitiker, Neugierige. Alle wollen den Mann von der andern Seite hören, wollen erfahren, was vor sich geht, wollen reden. Was denken die Israelis? Der Bursche geht herum mit einer Schachtel israelischer Datteln. Die Leute warten auf die Worte des Israeli. Und wenn ich kein Wort der Hoffnung finde, werden sie wütend, als hätte ich sie in ihrer eigenen Hoffnung verletzt.
"Wie kann ich leben, ohne meine fünfhundert Olivenbäume?", sagt der alte Mann. "Sie stehen auf dem Boden der neuen Strasse." "Ich freue mich über jeden Angriff auf einen Checkpoint", sagt der mit der Jacke, "aber der Angriff auf Kinder in Beit Israel machte mich traurig."
"Unser Staat wird kommen", sagt Abu Suleiman, ein Alter mit dunkler Sonnenbrille. Er analysiert die Situation aus der Sicht eines Mannes, der dreissig Jahre in Kuweit lebte. "Wenn Sharon mit all seinen Waffen keinen Erfolg hat, ist das ein Zeichen, dass unser Staat bald kommen wird, auch wenn es nur ein Quadratmeter sein wird. Amerika...", er geht über zu einer globalen Analyse, "Amerika wird uns nicht helfen, Frieden zu bekommen. Es will nicht Ruhe in der Welt. Wenn Friede herrscht, wohin sollen sie dann ihre Waffen verkaufen? Wenn Friede sein wird im Nahen Osten und zwanzig Millionen Touristen kommen, wird die Wirtschaft hier aufblühen. Denkst du, Amerika würde uns in Wohlstand leben lassen? Nie werden sie das, weder uns noch euch."
"Und die Oliven, wie ist die Ernte dieses Jahr?", frage ich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. "Gut", sagt der Mann mit dem grauen Bart, "es hat viel geregnet. Aber das ist nicht die Frage, du wechselst das Thema." Er ist verärgert über mich. "Was denkst du? Wird es eine Eskalation geben oder ein Abkommen?" "Eine Eskalation", sage ich. Er ist enttäuscht, hat eine andere Antwort erwartet.
Salah Ta'maris geht auf seinen Jeep zu. Seine israelischen Freunde, Aharon und Amalia Barnea, haben ein Buch über seine Geschichte geschrieben. Heute haben sie keinen Kontakt mehr mit ihm. Sie tendieren zu Sharon. Ta'mari, der aus diesem Gebiet nahe der Wüste stammt, war ein Kämpfer, ein Gefangener, heiratete die Tochter eines Königs. Während Monaten protestierte er vor Har Homa2, nun sitzt er hier auf der geplanten Strasse, die das Tal zerstören wird. Vielleicht wird es hier möglich sein, die Zerstörung zu stoppen. "Vor einigen Monaten sagte ich, wenn man in einem Inserat Selbstmordattentäter suchen würde, würden sich Hunderte melden. Man lachte mich aus, aber schau, was jetzt geschieht? Es ist unmöglich, so weiterzuleben. Gestern sassen wir für Stunden an einem Checkpoint fest. Der Soldat machte mit uns, was er wollte, und ich konnte mir vorstellen, was in seinem Kopf vorging, während wir endlos warten mussten. Alle wünschten, dass jemand käme, den Soldaten umarmen und mit ihm in den Himmel fahren würde. Selbstmord ist der Schrei der Hilflosigkeit. Die Kinder dort mussten zusehen, wie ihre Väter gedemütigt wurden. Aus der Erniedrigung der Väter wächst die Rache der Söhne. In den Tagen von Oslo sagten wir zu unsern Kindern: Wartet ab und schaut zu, wie die Dinge besser werden. Ihr werdet glücklich sein, ihr werdet frei sein. Später wurde klar, dass alles ein Betrug war. Die Reaktion der Kinder war gegen uns gerichtet, die Eltern, die sie irregeleitet hatten, und gegen euch. Was würde ein Israeli gegenüber einem Mann empfinden, der vorschlägt, sie zu zerstören, jedoch gleichzeitig auf ihrem Land lebt, wie Libermann in Nokdim? Viele Besetzer, nicht weniger klug als ihr, glaubten immer, dass ein nächster kleiner Sieg genüge, damit alles in Ordnung und ruhig sein würde. Doch sie scheiterten stets. Ihr seid vergiftet durch die Arroganz der Macht. Lasst uns unsern Staat auf unserm Land und geht weg. Ihr habt einen starken Staat, lasst auch uns leben. Lasst uns leben wie ihr, in Wohlstand, um unsere Kinder zu schützen." Salah Ta'mari zeigt zum Hügel hinauf. "Dort oben haben wir einen vierjährigen Buben begraben. Fadi ist nicht von einer Kugel getroffen worden, er hat sich ganz einfach an einer Olive verschluckt. Wegen der gegenwärtigen Lage war das Spital nicht fertig gebaut. So konnten sie ihn nicht retten." Ta'mari hat in diesem Jahr selber einen Jungen bekommen, doch er möchte hier im Zelt nicht über so persönliche Dinge sprechen.
1 Avigdor Liberman, Minister für Infrastruktur, ist aus Russland eingewandert, gehört einer sehr rechts stehenden Partei an und wohnt als Siedler auf palästinensischem Gebiet. 2 Har Homa ist ein neues Quartier auf einem Hügel in der Nähe von Jerusalem. Die Israelis haben es auf palästinensischem Boden gebaut, was für PalästinenserInnen eine Provokation bedeutet.*Igal Sarna ist Buchautor und Journalist der israelischen Tageszeitung Yediot Ahronot und lebt in Tel Aviv. Er kämpfte im Jom Kippur Krieg und gehört zu den Gründern der Friedensbewegung Peace Now.
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