La Grande Guerre –Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts

In die kollektive Erinnerung Europas ist der Erste Weltkrieg als der ‹Grosse Krieg› eingegangen. Er war in vielerlei Hinsicht ‹gross›, insbesondere rief sein Verlauf eine Bewusstseinsänderung gegenüber Kriegen im allgemeinen hervor. Europa schwor sich danach: Nie mehr Krieg! Dieses ‹Handwerk› hatte seine Ehrbarkeit und sein Ansehen verloren. Die Moderne Welt konnte den Krieg nicht mehr berechnen oder beschränken, er hatte eine Eigendynamik gewonnen und machte auch die Machthabenden zu Verlierern.

Von Nicole Billeter*

Bald nach den Kriegserklärungen im Sommer 1914 wurde den ZeitgenossInnen klar, dass dieser Krieg anders werden würde als alle vorangegangenen. Sie konnten sich allerdings nicht vorstellen wie anders. Es wurde nicht nur ein europäischer, sondern ein weltumspannender Krieg. Ein ‹grosser› Krieg in mancher Beziehung: Nie zuvor hatte die Welt so viele Männer in Waffen gesehen, nie war die Zivilbevölkerung so in das Kampfgeschehen einbezogen gewesen, und neue Errungenschaften ermöglichten erstmals Töten im industriellen Ausmass. Zum ersten Mal kämpften nicht mehr Krieger gegeneinander, sondern Völker gegen Völker. Man war nicht mehr darauf bedacht, einen Landstrich einzunehmen, sondern erklärte diese ‹Auseinandersetzung› zu einem Kampf der Kulturen. Erstmals wurde die Vernichtung von ganzen Nationen gefordert. Man war überzeugt, dass dieses Blutbad reinigend wirken würde: Nur die Besten, Tapfersten und Männlichsten sollten übrig bleiben und sie würden danach den Kern von stärkeren Geschlechtern bilden. Die Wirklichkeit wurde anders: Das neu etablierte Kriegsrecht schützte weder Soldaten noch ZivilistInnen oder Kulturgüter. Es herrschte das Recht der Unverfroreneren: Wer zu geächteten Mitteln wie Giftgas griff, war zwar im Unrecht, gewann aber unter Umständen einen entscheidenden Vorteil. Propaganda schränkte das Sichtfeld ein und hetzte auf, Zensur wachte über Gedanken und Äusserungen: Dieser Krieg war ein erster totaler Krieg.

Berauscht vom Heldentum

Viele Junge zogen in dem schönen Sommer 1914 begeistert in den Krieg, der ein Abenteuer zu werden versprach. Ehre und Ruhm sollten der Männlichkeit wieder zu Geltung verhelfen. Man konnte der satten Gründergeneration der Väter zeigen, dass man von deren Bequemlichkeit nichts hielt. Zurück ins wahre Leben, indem man dem Tod mutig ins Auge blickte. Die Welt schien dekadent geworden, man vermisste die Herausforderung und langweilte sich. Bei Kriegsbeginn sah es aus, als ob die sozialen Spannungen der Vorkriegszeit vergessen wären. Die Sehnsucht nach Einheit schien in allen Völkern endlich Wirklichkeit zu werden. Gemeinsam wandte man sich gegen einen äusseren Feind, der einem an die Existenz wollte. Alle waren davon überzeugt, ihr Land gegen einen hinterhältigen Angriff zu verteidigen, und alle waren bereit, sich für das Wohl des Landes zu opfern. Ein Rausch, ein Fieber – es packte die meisten Menschen jener Zeit. Schliesslich waren Kriege immer verherrlicht worden, wer wollte sich das Husarenstück entgehen lassen? Die Menschen Europas hatten seit vielen Jahren keinen grösseren Krieg mehr gesehen. Sie kannten ihn nicht mehr, er war Legende, war romantisch und heroisch gemacht worden.

Ernüchtert von den Folgen

"Der Krieg von 1914 wusste nichts von den Wirklichkeiten, er diente noch dem Wahn, dem Traum einer besseren, einer gerechten und friedlichen Welt. Darum gingen, darum jubelten damals die Opfer trunken der Schlachtbank entgegen, mit Blumen bekränzt und mit Eichenlaub auf den Helmen, und die Strassen dröhnten und leuchteten wie ein Fest."

In den Worten des Schriftstellers Stefan Zweig liest man schon etwas von der Ernüchterung, die dieser Krieg mit sich brachte. An der Front kam sie noch früher als im so genannten Hinterland. Die Soldaten mussten feststellen, dass der moderne Krieg keine rühmliche Angelegenheit war: der Kampf bestand aus Warten und sinnlosem Exerzieren, aus Lausplagen, schlechtem Essen und Schikanen von Offizieren; Kameradschaft war oft nicht mehr als eine Illusion. Fand eine Schlacht statt, brach das Chaos aus, weder sah man den Gegner, noch gab es ritterähnliche Kämpfe; stattdessen Stacheldraht, Granaten, Giftgas. Übersicht über das Geschehen hatte keiner, sinnloses Sterben für einige Meter Erde waren normal.

Die Verluste an Menschenleben wurden so riesig, dass es verboten war, die Listen von Toten öffentlich zu publizieren, um die Moral nicht zu zerstören. Die Soldaten erlitten grauenhafte Verletzungen, aus den Feldlazaretten wurden verunstaltete Wesen entlassen. Männer, die an so genanntem ‹Shell shock› oder Kriegsneurose litten, füllten die Irrenanstalten - auch die tagelangen Zwangsbäder oder die grausamen Elektroschocks konnten sie nicht von ihren traumatischen Erlebnissen heilen. ZivilistInnen kamen zusehends unter Beschuss: Befanden sie sich im ‹Feindesland›, wurden sie nicht selten interniert und für Zwangsarbeit missbraucht. Berichte über Gemetzel, Folter, Erschiessungen von Geiseln und Vergewaltigungen sowie Völkermord gelangten an die Öffentlichkeit. Ein Sieg durfte nun alles kosten.

Hunger und Not

Die Wahrheit des Krieges konnte zu Hause trotz Zensur nicht verheimlicht werden. Je länger der Krieg dauerte, umso grösser wurden die Entbehrungen für die Zurückgebliebenen. Sorge und Trauer um die Soldaten waren alltäglich, ebenso Inflation, Armut und Hunger. Die Lebensmittelversorgung liess sehr zu wünschen übrig: Gestützt auf die Vorhersagen der Heeresleitungen hatte man keine Vorbereitungen getroffen für einen langen Wirtschaftskrieg. Bald herrschte Hunger, auch in den reichen Häusern aller Länder. Steckrüben ersetzten alles. Der strenge Winter 1916/17 konnte nur dank dieser Rüben überlebt werden. Solche Opfer konnte die Propaganda kaum noch verlangen oder rechtfertigen. Wo die Schlagworte vorher noch ‹schneller Sieg› und ‹Annexionen› geheissen hatten, kamen nun die Tugenden ‹Pflichterfüllung› und ‹Durchhalten› in Mode.

Der Zusammenbruch

Als schliesslich der Zusammenbruch für Deutschland und seine Verbündeten kam, wurde das Ausmass der Katastrophe erst richtig ersichtlich. Die militärische und politische Führung hatte es verstanden, die Menschen im Unklaren zu lassen, so dass die Niederlage überraschend kam und die Menschen in Verzweiflung stürzte. All die Jahre des Mangels und der Opfer: umsonst! Aber auch in den siegreichen Ländern hatte der Krieg die Menschen und das Land für Jahrzehnte gekennzeichnet, von diesem Sieg hatte niemand etwas. Auch die Feststellung der Kriegsschuld Deutschlands und die horrenden Reparationszahlungen konnten die Verelendung Europas nicht ‹reparieren›. Millionen von Getöteten, Verwundeten und fürs Leben Gezeichneten blieben desillusioniert zurück. Soziale Instabilität und Unruhen suchten die Völker heim. Revolutionen stürzten jahrhundertealte Monarchien und versuchten, in der Auflösung neue Gesellschaften zu bilden. Die vier Kriegsjahre hatten Armut statt Bereicherung gebracht, Verbitterung statt Befriedigung, Hungersnot, Geldentwertung, Revolten, Unsicherheit.

Nie wieder Krieg!

Dieser Krieg musste der letzte gewesen sein. Anders konnten die Beteiligten sonst keinen Sinn darin ersehen. Es müsste jener Krieg gewesen sein, der alle künftigen Kriege unmöglich machte. Die lange belächelte Friedensbewegung wurde zu einem ernst zu nehmenden gesellschaftlichen Faktor. Schliesslich hatte sie vorausgesagt, dass mit diesem Krieg nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren sei. Krieg durfte nicht länger ein Mittel der Politik sein, er sollte geächtet werden. So schrecklich war er gewesen, dass er niemals wiederholt werden durfte.

Zahlreich waren die Willensäusserungen aller Länder, einen neuen Geist der Versöhnung zu schaffen und nach anderen Mitteln zu suchen, um Auseinandersetzungen zu schlichten. Die 1920er und frühen 1930er Jahre waren gezeichnet von diesem Verständnis. Man hatte dem modernen Krieg ins Auge geblickt und wusste, dass ein vergleichbares Erlebnis der Welt inskünftig erspart bleiben musste. Niemals mehr wollte man es so weit kommen lassen.

Wir wissen, dass diese Haltung nicht lange überlebt hat und die Welt einen weiteren Weltkrieg erleben musste, dessen Wurzeln unter anderem auch in der ‹Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts› lagen. Dennoch ist seitdem das Bewusstsein in der Welt vorhanden, dass Krieg keine Alternative der Politik ist und er mit allen Mitteln vermieden werden muss. Der Krieg war Anfang des letzten Jahrhunderts endgültig verabscheuungswürdig geworden.

Wer ihn heute führen will, muss sich gut rechtfertigen und kann nicht selbstverständlich auf die Zustimmung oder gar Unterstützung der Bevölkerung rechnen. Wo immer man heute in den Krieg zieht, muss er als gerecht und unvermeidlich dargestellt werden, sonst trägt die Bevölkerung die Entbehrungen und Verluste nicht mit.

Dieser Sinneswandel ist eine der grössten Hinterlassenschaften des Grossen Krieges – und das einzig Gute an ihm.

*Nicole Billeter ist Germanistin und war bis 2001 Mitglied der Redaktionskommission der FriZ.


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