Aristoteles und die kriegerische Philosophie des Abendlandes

Ein Interview mit der deutschen Philosophin Annegret Stopczyk, die in ihrer "Philosophie des Leibes" die Grundlage der gesamten abendländischen Philosophie radikal in Frage stellt. Stand Aristoteles Denkmodell am Anfang des Krieges, so wie wir ihn heute kennen?

Sie unterstellen in Ihren Büchern, dass Aristoteles mit seiner Philosophie einen Zweck verfolge, der mit der Kriegergesellschaft Athens zusammenhängt.

Annegret Stopczyk: Ich gehe eigentlich weiter. Die gesamte, uns im westlichen Denken heute noch bestimmende griechische Philosophie der Linie Sokrates/Platon/Aristoteles ist erfunden worden, um Männer dazu zu bringen, leichter für die Polis in den Krieg zu ziehen.

Wie kommen Sie darauf?

Annegret Stopczyk: Sie müssen die historische Situation Athens von vor 3000 Jahren bis vor 2000 Jahren berücksichtigen. Damals entstand die Philosophie heutiger Prägung. Es war eine Kriegergesellschaft, die sich erst allmählich als Polis formierte. Die Sippen — oder Gentilgesellschaft — bestimmten bis dahin das Leben der Menschen. Der Stamm oder die Sippe war die identitätsprägende Gemeinschaft. Meistens bereits von den Vätern als Clanoberhäupter geführt, aber noch mit weiblichen Gottheiten als Ahninnen, die aus den weiblichen Stammesherkunftslinien noch früherer Zeit entstanden waren.

Was bedeutet das für die Philosophie?

Annegret Stopczyk: Ich bin durch den Begriff ‹Demokratie› darauf gekommen. Der Demos war ein Mann, der von einem durch Kleisthenes verfügtes Demen zur Polis geschickt wurde, ein Demenoberhaupt, und es durfte nur ein Mann sein. Ein Demen war eine Zwangszusammenlegung verschiedener Sippen, die manchmal auch geteilt wurden, je nachdem, wo sie sesshaft waren. Demen wurden per Lineal eingeteilt, nicht an vorhandene Clangepflogenheiten orientiert. Im Gegenteil, es ging darum, die Sippen zu zerschlagen, um eine neue Gemeinschaftsform zu gründen, die Polis, den Stadtstaat. Ich denke, die Zusammenlegung war eine gewaltsame Angelegenheit, denn die Männer waren von ihrer Identität her zuerst Sippenangehörige und noch längst keine Stadtstaatenbürger in ihrem Bewusstsein. Sie kämpften wohl auch — ähnlich wie in Somalia in der heutigen Zeit — gegen die neue Staatsform und waren keineswegs bereit, für die Polis in den Krieg zu ziehen. Sie erstrebten die Vorherrschaft ihrer Sippe, nicht die eines ziemlich abstrakten Stadtstaates, der Polis Athen. Zur Sippe gehörten auch die Frauen, die grossen Mütter, die familiären Beziehungen und Verpflichtungen. Manche Sippen waren noch matrilinear organisiert.

Kleisthenes verfügte als Erstes, dass die Sippen nur männliche Götternamen als Ahnen haben durften, die weiblichen wurden zwangsweise umbenannt. Die Männer waren noch keine Männer im heutigen patriarchalen Sinne. Der Demos, den sie dann einmal im Jahr nach Athen schickten, war kein "Volksvertreter", sondern einer, der die Polis im Demen vertrat, der Demenvorsteher. Demokratie war die Herrschaft der Demenvorsteher über die Sippen, die sich auf Blutabstammung und Bodenherkunft beriefen. Gerade in der Zeit des Perikles und seines Freundes Sokrates lässt sich die Identitätswandlung in den alten Schriften nachvollziehen. Ein Philosoph zu sein, oder eine philosophische Identität zu besitzen hiess, unabhängig zu sein von den Belangen des Körpers, den Gefühlen, den Hingezogenheiten zu Leib und Boden. Die Vernunft wurde erfunden als eigenständige innere Kontrollinstanz, um den Mann zu befähigen, für leibabgewandte Ideale in den Krieg zu ziehen, für die Freiheit des Bürgers, für Autonomie etc. Es war immer eine Freiheit von etwas, das überwunden werden sollte, vor allem auch die Abhängigkeit von den Frauen und Müttern. Das Weibliche galt als Gegenbild der Polisidee, wie schon Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes beschrieb. Darum konnte auch nur der freie Mann als Polisbürger oder Staatsbürger das Ideal der Kriegergesellschaft Athens sein.

Für die Vormacht eines solchen Ideals in den Krieg zu ziehen, muss den meisten Männern völlig fremd gewesen sein. Sokrates kann so — polemisch gesagt — als Propagandist der perikleischen Polis verstanden werden, und seine Körperfeindlichkeit hatte den Sinn, den Körper des Mannes zu stählen für die Aufopferung im Krieg. Platon hat diese körperfeindliche Seite verstärkt mit seiner Ideenlehre und Aristoteles hat die Körper als von einem Ziel (Telos) beseelte Dinge neu definiert und eine Samentheorie erfunden, in der alles Gute des Menschen durch den Samen in die Welt kommt und nicht mehr durch den Leib der Mütter. Die Vernunft sei im Samen manifestiert, darum sei das Männliche die formgebende Kraft in der Welt und das Weibliche sei nur der Stoff, das Gefäss für den Samen, die Brutstätte, die aber im Prinzip nichts zum Wesen des Menschen beitrage. Menschsein definiert er als Animal rationale, das vernünftige Tier. Darum dürfe auch nur der freie Mann regieren, über Frauen, Kinder, Sklaven, besitzlose Männer.

Aber war Aristoteles nicht der Philosoph, der im Gegensatz zu Platon die Materie höher schätzte und damit alles Körperliche?

Annegret Stopczyk: Aristoteles war als Schüler Platons eigentlich der, der die Sprache, den Logos, als philosophische Ausgangsbasis favorisierte, während für Platon das Denken in Bildern noch Vorrang hatte. Die Philosophie als Wissenschaftsgebäude mit den verschiedenen Bereichseinteilungen war seine sprachlogische Schöpfung. Inhaltlich aber stand Aristoteles in der sokratischen Linie. Die Vernunft musste gegen den Körper gestärkt werden, der Polisgedanke erweiterte sich bei Alexander dem Grossen (Schüler von Aristoteles) in den Grossreichgedanken, in dem Zusammenhalt und die richtige menschliche Identität nur durch vom Körper abstrahierte Ideen vorstellbar waren. Es ging darum, Männer für diese Ideen zu gewinnen, Männer, die bereitwillig ihren Körper dem Staat als Krieger schenkten. Philosophie ist in der Antike mit dieser herrschenden Kriegsbereitschaft verbunden und auch deshalb nur für Männer von Männern erdacht worden.

Unser europäisches Denken ist durchzogen von diesen kriegsnützlichen Strukturen. Sei es der strenge Dualismus zwischen Körper und Geist, Theorie und Praxis oder insgesamt die leibfeindliche und damit auch lebensfeindliche Ausrichtung, die dann im Christentum weiter forciert wurde, auch gerade mit Aristoteles durch Thomas von Aquin. Wir stecken in unseren Begriffssystemen in diesen kriegsverherrlichenden Sprachgebilden, ohne dass es uns auffällt. Was zu Aristoteles Zeiten noch ungewohntes Denken war, wozu die Männer erst überredet werden mussten, ist für uns heute Alltagsstruktur im Denken.

Kann man daraus heraus kommen?

Annegret Stopczyk: Ich versuche es mit einem leibbezogeneren Denken in meiner Leibphilosophie, damit die friedensbereite Lebensweise nicht länger mehr als Schwäche interpretiert wird, sondern als Stärke aus einer bewussten Lebensfreude. Das war den meisten griechischen Philosophen, die wir heute noch so häufig zitieren, damals fremd.

*Annegret Stopczyk ist selbständige Dozentin für Ethik/Philosophie und betreibt in Stuttgart eine philosophische Praxis. Bücher der Autorin:
Nein Danke, ich denke lieber selber. Philosophie aus weiblicher Sicht. Berlin 1996/2000, Verlag Rütten & Loening.
Sophias Leib. Entfesselung der Weisheit. Ein philosophischer Aufbruch. Heidelberg 1998, Carl-Auer-Systeme-Verlag.

 

Who is who?

Alexander der Grosse (356—323 v. Chr.)

Ursprünglich König Makedoniens unterwarf Alexander der Grosse später das ganze antike Griechenland und errichtete schliesslich ein Imperium, das bis weit nach Asien und Afrika hinein reichte. Schüler von Aristoteles.

Aristoteles (384—322 v. Chr.)

Griechischer Philosoph, bedeutendster Schüler von Platon.

Demen

Plural von Demos (gr.-lat.): Volk, genauer Gebiet und
Bevölkerung eines altgriechischen Stadtstaates, aber auch kleinerer Gemeinden.

Gentilgesellschaft

Die Gentilen (lat.): die Angehörigen der altrömischen
Gentes (Verband mehrerer Familien im alten Rom)

Kleisthenes (ca 500 v. Chr.)

Gilt als Begründer der athenischen Demokratie, da er
mittels Verfassungsreform den Einfluss des Adels auf die Vollversammlung brach.

Perikles (ca 495—429 v. Chr.)

Grossneffe von Kleisthenes. Führte 465 v. Chr. erneut eine Verfassungsreform in Athen durch (u.a. Einführung bezahlter Staatsämter). Schloss 445 mit Sparta einen 30jährigen Frieden und strebte (erfolglos) eine pangriechische Vereinigung an.

Platon (427—347 v. Chr.)

Philosoph und Zeitgenosse von Sokrates. Gründete 387 in Athen die ´Akademieª (Philosophenschule), aus der zahlreiche Berühmtheiten hervorgingen und die fast 1000 Jahre bestehen blieb.

Polis

Stadtstaat im alten Griechenland: Es gab noch keine Staaten im heutigen Sinn, sondern nur einzelne Stadtstaaten, die aus der Stadt und dem unmittelbaren Umland bestanden (z.B. Athen).

Sokrates (469—399 v. Chr.)

Ursprünglich gelernter Bildhauer in Athen gab Sokrates seinen Beruf auf und wurde Philosoph, kämpfte aber auch im peloponnesischen Krieg. Wurde wegen Gefährdung der Jugend und wegen Gottlosigkeit zum Tod verurteilt.

Thomas von Aquin (1225—1274)

Auf seine Anregung hin wurden die im Mittelalter vergessen gegangenen Schriften des Aristoteles ins Lateinische übersetzt (und damit für eine breitere Öffentlichkeit wieder lesbar).

 


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