Nebengedanken

Sieben Häuser in Kosovo

Von Ute Ruf

Schickt uns ein Gedicht zum Thema Glück. Mindestens acht Zeilen lang. So lautete der Wettbewerb von Radio DRS.

Da machen wir mit! Zuerst Brainstorming. Was ist das grösste Glück? Schnell sind sich meine Drittklässler einig: Wenn man Geld auf der Strasse findet. Weitere Glücksmomente: Posaune spielen, Meersäuli streicheln, den Spielschrank öffnen … Jetzt soll jedes Kind ein Glücksgedicht verfassen. Sofia steht am Pult mit:

"In Kosovo hat es unsere Häuser nöt verbrennt."

Toll, Sofia, aber noch kein Gedicht. Weisst du, in jede Zeile kommen nur wenige Wörter. Wie viele Häuser hat deine Familie dort?

Fünf oder sechs oder sieben.

Sieben ist gut, das ist eine Märchenzahl. Schreibe deinen Satz nochmal, fange mit ‹Sieben Häuser› an, und geh dann gleich in eine neue Zeile...

Sie steht nun am Pult mit:

Sieben Häuser / in Kosovo hat es nöt verbrennt.

Ich streiche ‹hat es›, mache aus ‹nöt› ein ‹nicht›, aus ‹verbrennt› ein ‹verbrannt› und platziere diese beiden letzten Wörter in eine dritte Zeile.

Wem gehören denn diese Häuser, Sofia?

Meiner Grossmutter und den Verwandten.

O Sofia, was passt zu verbrannt – verwwww... verwa... verwandt! Pass auf, wir schieben drei Zeilen ein:

Sieben Häuser / in Kosovo / meiner Grossmutter ihr Haus / und allen, / die mit uns verwandt / nicht verbr... richtig, nicht verbrannt.

Jetzt brauchst du nur noch zwei Schlusszeilen.

Sofia am Überlegen, Sofia wieder am Pult.

Ich weiss nüüt meh.

Schau halt den Titel an, schreib ‹Welch ein Glück› oder sowas.

Da steht sie dann mit ‹Welch ein Glück› und will die achte Zeile wissen.

Sofia, jetzt weiss ich auch nichts mehr! Schreib halt die letzte Zeile noch mal!

Sie wiederholt ‹Welch ein Glück› und geht in die Pause. Ich aber bleibe am Pult sitzen, den Kopf in die Hände gestützt. Erst jetzt hab ich begriffen:

Das war keine Geschichte mit Meersäuli streicheln, das war eine Geschichte um Leben und Tod. Eine Geschichte, die gut ausging, diesmal. Nicht verbrannt! Wie leichtfertig war ich mit diesem Wort umgegangen: Nicht verbrannt passt prima zu verwandt! Ich hatte nur ein Ziel gehabt: Das Glück im Unglück auf acht Zeilen zu verteilen. Und vor lauter Dichten und Platzieren, Streichen und Formieren habe ich das Drama in diesem Satz gar nicht gesehen. Wie oft passiert uns das, dass wir das Drama in einem Satz nicht erkennen? Fünf oder sechs oder sieben, kommt nicht drauf an, wir nehmen die schönere Zahl, die Märchenzahl! Was für ein Märchen??

Kosovo hinter den sieben Bergen

mit den siebenundsiebzigtausend Särgen...

Grossmutter lebt noch.

Welch ein Glück!

Welch ein Glück!

Ich habe es nachgeholt. Das Gespräch mit Sofia.

Ute Ruf ist Lehrerin in Zürich und Autorin.

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