Überall Narben. Pockennarben, so weit das Auge reicht. Die alte, vernarbte Haut von Laos spannt sich über weite Gebiete östlich des Mekong bis zur vietnamesischen Grenze. Ich fliege mit einem kleinen Propellerflugzeug hoch über dem geschundenen Land. Die dreckigen Bombenkrater, verschorften Wunden und Geschwüren gleich, kontrastieren scharf mit der grünen Vegetation und den dunkelbraunen Hüttendächern der kleinen Dörfer. Starke Turbulenzen pressen mich in den Sitz. Das Flugzeug vibriert und ächzt, sinkt plötzlich steil ab. Wir nähern uns dem Flugfeld von Xieng Khouang. Die Erde wird staubig und rot, tiefe Löcher begrenzen die kurze Piste vor uns. Hart setzt die Maschine auf, wir schiessen rasend schnell auf das Pistenende zu, doch die beiden laotischen Piloten bringen das Flugzeug nach kurzer Rollstrecke zum Stillstand. Danuth, ein junger, selbstbewusster Mann, fährt mich zum Hotel Maly in Phone Savan. Die untergehende Sonne am wässrig blauen Himmel berührt beinahe den Horizont und taucht die Landschaft in ein intensives Rot. Schräg stehende Telefonmasten mit rostigen Lautsprechern säumen die ungeteerte Hauptstrasse. Beim Nachtessen erzählt Danuths Vater von einem Laoten, der vor 30 Jahren nach traumatischen Erlebnissen zum Kämpfer der laotischen Revolutionären Streitkräfte wurde. Die Geschichte von Butta Kaew beginnt mit einem Dokument, das im Kriegsmuseum der Hauptstadt Vientiane gezeigt wird:
"Sehr geehrte Herren Ich bin Amerikaner. Ich verstehe Ihre Sprache nicht. Unglückliche Umstände zwingen mich, Sie um Unterstützung zu bitten. Ich benötige Nahrung, Unterschlupf und Schutz. Bitte bringen Sie mich zu jemandem, der mir Sicherheit bieten und mich zu Amerikanern zurückbringen kann. Meine Regierung wird Sie für Ihre grosszügige Unterstützung entschädigen."Jedes Mal, wenn Butta Kaew Amerikanern begegnete, dachte er an diese Botschaft. Sie war in viele Sprachen übersetzt: Laotisch, Vietnamesisch, Khmer, Chinesisch. Jeder Soldat trug dieses Papier bei seinen Einsätzen in Indochina auf sich. Auch Butta Kaews Heimat Laos war damals Kriegsgebiet. Bomber warfen Tag und Nacht Hunderte von Tonnen ihrer tödlichen Last ab. Eines Nachts wurde er vom Dröhnen der tieffliegenden Bomber überrascht. Unmittelbar danach verwandelte sich die kleine, friedliche Welt seines Dorfes in ein höllisches Inferno. Detonationen, Feuer, Schreie, verstümmelte Frauen, Männer und Kinder, seine sterbende Mutter, sein tot am Boden liegender Vater diese Bilder suchten ihn während langer Zeit Tag und Nacht heim und er wurde vor Schmerz und Trauer fast wahnsinnig.
Zehn Jahre nach dem Ende des Vietnamkrieges kamen zwölf amerikanische Spezialisten, viele von ihnen Kriegsveteranen, nach Laos, um nach Überresten ihrer Toten zu suchen, damit diese mittels DNA-Analyse identifiziert werden konnten. Butta Kaew und seine laotischen Soldaten arbeiteten bereits seit mehreren Tagen im Wald Schulter an Schulter mit den Amerikanern, gruben vorsichtig die Erde um, schaufelten sie auf ein feines Netz, um sie zu sieben, und durchwühlten die Asche mit ihren Messern. Es war eine mühselige Arbeit, denn Bäume, dichtes Gebüsch und ein Teppich aus Moos und Pflanzen hatten die Stelle, wo der C-130 Bomber aufschlug, überdeckt.
Am nächsten Morgen fahre ich mit Danuth in einem alten Toyota Landcruiser zu einem entfernten Dorf. Nach langer Fahrt stoppt der junge Laote den Geländewagen auf einem kargen Plateau. Er führt mich auf einem kaum erkennbaren Pfad durch dürres, hochstehendes Gras. "Bleib immer hinter mir." Seine Anweisung ist knapp und klar. Die Sonne brennt gnadenlos auf die ausgemergelte Landschaft. Vorsichtig setze ich Schritt für Schritt auf den Boden, bemühe mich, seiner Spur zu folgen. Nach wenigen Metern sehen wir den Krater. Aus der steinigen Erde ragen drei riesige, intakt gebliebene Bomben. Der Absender ist klar. Die weisse Schablonenschrift leuchtet im Sonnenlicht durch Rost und Dreck: 56th AIR COMMANDO WING USAF / SOUTH EAST ASIA.
Die grosse Maschine war 1971 von der amerikanischen Basis in Ubong im Osten Thailands zu ihrer Bomber-Mission über dem Bolavan-Plateau gestartet. Es war Dezember, wenige Tage vor Weihnachten. Die C-130 kletterte langsam auf 2000 Meter Höhe. Starker Dunst überzog die Landschaft und liess alle Konturen zerfliessen. Nur das goldene Glänzen des wenige Kilometer entfernten Mekong in der untergehenden Sonne durchbrach die Eintönigkeit. Das monotone Dröhnen der Motoren drang bis in den hintersten Rumpfwinkel des Flugzeugs. Die Piloten hielten den Kurs, der ihnen von der Flugleitstelle vorgegeben wurde, präzise ein, um das nahe gelegene Zielgebiet nicht zu verfehlen. Unmittelbar nach dem Abwurf der Bomben erschütterte ein gewaltiger Schlag das Flugzeug. Die Explosion einer Granate riss einen Drittel der linken Tragfläche weg. Sofort kippte der Bomber nach links und stürzte in einer enger und enger werdenden Spirale dem Erdboden entgegen.
Immer, wenn Butta Kaew an den Krieg dachte, begannen seine Gedanken in seine Jugendzeit zurück zu wandern und er fühlte Stiche in seiner Brust. Als in den Sechzigerjahren Krieg in sein Land getragen wurde, war er zwölf Jahre alt. Seit 1970 waren seine Eltern, die jüngeren Geschwister und viele seiner Verwandten tot, von Bomben zerfetzt. Gerne hätte er ihnen, wie es Brauch und Pflicht war, Blumen auf die Gräber gebracht, doch es gab keine Grabstätten. Die Napalmbomben hatten alles Lebendige innert Sekunden verbrannt. Niemand konnte identifiziert und bestattet werden. So blieb ihm einzig die Erinnerung.
Während einer der Pausen, welche die amerikanischen Spezialisten in immer kürzeren Zeitabständen benötigten, weil Hitze und Feuchtigkeit sie rasch erschöpften, näherte sich einer der Männer. Butta Kaew schlug die angebotene Virginia Filterzigarette nicht aus, die ihm der Amerikaner zusammen mit einer Streichholzschachtel offerierte. Er bedankte sich, kramte einen Beutel mit Lao Tabak und ein gedörrtes Bananenblatt aus einer der Taschen seines Tarnanzugs und wollte beides seinem Gegenüber anbieten, doch dann zögerte er. Bestimmt konnte dieser Mann keine Zigarette drehen. Diese Amerikaner waren von den Annehmlichkeiten ihrer Zivilisation abhängig. Sie konnten nicht barfuss gehen, schliefen in Zelten, assen nur Büchsennahrung und benutzten selbst zum Waschen nur Trinkwasser aus Flaschen. Unterentwickelte Leute wie wir essen Wurzeln und Blätter, trinken Wasser aus Quellen und baden in Flüssen, dachte Butta Kaew. Er rollte den Tabak in das Blatt und reichte die Zigarette dem Amerikaner. Der Mann inhalierte den Rauch des Salavan-Tabaks und begann zu husten. "Oh, starker Tabak. Danke." Verlegen drehte er sich um und stakste zu seiner Gruppe zurück. Butta Kaew blieb stehen. Ein angenehm kühlender Wind kam auf. Seine Gedanken wurden ruhig. Bilder aus seiner Jugendzeit stiegen in ihm auf.
Mit siebzehn trat er der revolutionären Jugendorganisation bei. Er war stolz darauf, mit seinen Kameraden die Kämpfer mit Nachschub zu versorgen. Eines Tages, als sie mit ihren Säcken auf dem Rücken über eine weite, dürre Hochebene trotteten, wurden sie plötzlich massiv beschossen. In Panik warfen sie ihre Last weg und rannten in den nahe gelegenen Wald zurück, während ihnen die Kugeln um die Ohren pfiffen. In diesem Moment wurde Butta Kaew bewusst, dass er vielleicht nur noch wenige Augenblicke zu leben hatte. In Todesangst rannte er über eine Stunde lang ziellos durch den Wald. Er verlor den Kontakt zu seinen Kameraden und schliesslich auch die Orientierung. Drei Tage und Nächte kämpfte er sich durch dichten Wald, ass einige Beeren und Blätter, doch das Schlimmste war, dass er kein Wasser finden konnte. Am Morgen des vierten Tages erblickte er in der Ferne einen ihm bekannten Berg. Er sank auf die Knie, begann zu zittern, Tränen rannen über seine Wangen. Nach weiteren endlosen Stunden traf er in seinem Dorf ein. Er konnte nicht mehr sprechen, kein Wasser trinken und keinen Reis essen.
Wir verlassen die Ebene, fahren auf schmalen, holprigen Pfaden dem nächsten Dorf entgegen. Bald rennen uns wild gestikulierende und schreiende Kinder entgegen. Grosse Augen. Neugierige Blicke. Scheues Lächeln. Touristen verirren sich selten hierher. Langnasen, wie die Fremden genannt werden, sind immer noch etwas Aussergewöhnliches. Danuth bremst das Fahrzeug ab und hält an. Die Strasse von Muong Kham ist mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Hühner und kleine schwarze Schweine rennen aufgeregt umher. Die aus verwitterten Brettern gezimmerten, mit Bambus bedeckten Häuser stehen auf angefaulten Holzpfählen. Erst auf den zweiten Blick sehe ich das Unglaubliche. Die amerikanischen Bomben sind immer noch hier. Die Einheimischen haben aus dem vom Himmel gefallenen, todbringenden Eisen Gartenzäune, Blumentöpfe, Feuerstellen und Wasserbehälter gefertigt.
Am Abend, als Butta mit seinen Männern um das Feuer sass, dachte er an die Zeit, als er sich den Revolutionären Streitkräften anschloss, um gegen die Amerikaner zu kämpfen. Hass und sein Wunsch zu sterben liessen ihn nach einer kurzen Grundausbildung jeden noch so gefährlichen Auftrag annehmen. Er wurde zu einem geachteten Kämpfer. Nach dem Krieg konnte er in Hanoi studieren. Dies erweiterte seinen Horizont und ermöglichte es ihm, in grösseren Zusammenhängen zu denken. Seine Wut und sein Hass verschwanden zwar nicht, doch er konnte besser damit umgehen und seine Gefühle reflektieren. Jetzt war er sogar bereit, mit ehemaligen Feinden Zigaretten auszutauschen
Die riesige Felswand ist mit Moos und Grasbüscheln bewachsen. Schmale Wasserfälle haben senkrechte Kerben aus dem weichen Stein gewaschen. Es ist feucht und stickig, das Atmen fällt schwer. Mein Begleiter sucht die Wand mit einem Fernglas ab, gibt mir dann das Zeichen, ihm zu folgen. Dichtes Gebüsch verbirgt den Eingang der Höhle. Ich schlüpfe durch eine Lücke ins Dunkel. Danuth erzählt mir, dass die Bevölkerung der umliegenden Dörfer hier Schutz vor den amerikanischen Bombern suchte. Jetzt ist alles still. Von Zeit zu Zeit hören wir in der dunklen Tiefe Wasser glucksen.
An einem grauen Tag im Dezember des Jahres 1969 befanden sich 400 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder, in der Höhle. Es war kalt und zahlreiche Familien sassen dichtgedrängt um die verschiedenen Feuerstellen. Der Tag ging bereits zur Neige. Mehrere Frauen kamen von den Feldern zurück, wo sie das wenige, noch vorhandene Gemüse gesammelt und einige Bananen gepflückt hatten. Ein tief fliegendes Aufklärungsflugzeug entdeckte die Menschen, die zum Höhleneingang kletterten. Die Besatzung meldete dies sofort zur Einsatzleitstelle. Der Pilot eines in der Nähe fliegenden Jets wurde zum kreisenden Aufklärer dirigiert.
Danuths Stimme stockt. Mich fröstelt. Meine Gedanken beginnen zu rasen. Ich blicke plötzlich durch das Zielsuchgerät des Kampfjets. Meine Ohren dröhnen. Der Nomad T-28 Fighter sinkt steil ab, geht in den Sturzflug über. Harte Böen schütteln die Maschine. Die Markierung des Zielsuchgerätes vor der Frontscheibe wandert der Felswand entlang. Der Pilot drückt den Steuerknüppel nach vorn. Noch tiefer, noch näher, noch mehr Adrenalin. Die Baumwipfel werden zu vorbeiflirrenden, grünen Streifen. Dann wird der Jet präzise ausgerichtet. Die rechte Hand des Kampfpiloten fixiert den Steuerknüppel, der Daumen drückt auf den roten Knopf, der die Rakete abfeuert. Die Augen hinter dem Helmvisier verfolgen ihre Leuchtspur, sehen den Blitz, dann wird das Flugzeug hochgezogen. Im Bruchteil einer Sekunde zerfetzt und verbrennt die gewaltige Explosion alle Menschen in der Höhle. Wir schweigen. Dunkelheit und Stille legen sich wie ein schweres, nasses Tuch über meinen Kopf.
Der nächste Morgen, es war der neunte Tag seit Beginn der Suche, begann aussergewöhnlich klar und kalt. Ein starker Wind wehte. Die aufgehende Sonne sandte ihre Strahlen wie Blitze durch das Blätterdach um die Absturzstelle. Nach dem kargen Morgenessen blieb Butta auf einem Baumstrunk sitzen. Er fühlte sich müde und dachte wieder an das Dokument und daran, dass wohl jeder der amerikanischen Spezialisten dieses Papier damals auf sich getragen hatte. Nun gab es nur noch wenig zu tun. Die Amerikaner waren mit der Arbeit zufrieden und veranstalteten gegen Mittag ein grosses Abschiedsfest. Als Butta Kaew bei der kurzen Eröffnungszeremonie die Hand des Leiters der Spezialisten schüttelte, überraschte er alle Anwesenden mit seinen Worten in der Sprache der Knochen:
"Sehr geehrte Herren Ich bin Laote. Ich spreche Ihre Sprache. Mitmenschlichkeit veranlasst mich, Sie zu unterstützen und Ihnen Hilfe und Schutz angedeihen zu lassen. Bitte akzeptieren Sie dieses Angebot und überreichen Sie es jemandem, der es zu schätzen weiss. Bringen Sie die Knochenstücke den Angehörigen zurück. Ich danke Ihnen, dass Sie die Überreste dieser unwillkommenen Eindringlinge mitnehmen. Tun Sie alles, um in Zukunft Kriege zu verhindern. Ich befürchte, dass mit dem Einsatz neuer Waffen nicht einmal Knochen übrig bleiben werden, um sie den Wartenden nach Hause zurückzusenden."Die beiden Propellerturbinen dröhnen unter der Startleistung. Das Flugzeug beschleunigt. Harte Schläge schütteln mich durch. Augenblicke später zieht der Pilot die Maschine steil nach oben. Die Erde sinkt unter mir weg. Blau, tiefes Blau. Nach endlosen Minuten wird die Flugbahn flacher. Der Pilot legt die dröhnende Turboprop in eine sanfte Linkskurve. Wir gleiten hoch über der Sonne, die bereits den Horizont berührt, durch den Himmel. Die Erde färbt sich wundersam rot. In der Ferne blitzt der Mekong im Dunst golden auf. Die alte, geschundene Haut von Laos steigt langsam in mein Blickfeld. Narben, Pockennarben begleiten meinen Abschied.
*Hansjürg Moser ist Sekretär bei der Gewerkschaft transfair und freischaffender Journalist.Inhaltsübersicht | nächster Artikel |