Die Altarkerzen brennen. Das Herz im Angstraum klopft unerbittlich. Um mich etwas aufzuwärmen, trinke ich einen heissen Tee. Es ist kurz vor acht Uhr. Zwölf Mädchen, siebzehn Jungen und ihr Lehrer kommen herein und setzen sich erwartungsvoll in den Veranstaltungsraum. Nach einer kurzen Begrüssung gehe ich mit den Schülerinnen in die Ausstellung.
Die Jungen bleiben mit dem Lehrer zurück. Sie werden von einem Berufskollegen, der mit geschlechtsspezifischer Bubenarbeit vertraut ist, auf die Ausstellung vorbereitet. Er wird ihnen sagen, dass sich die von Frauen und Mädchen gestaltete Ausstellung auch an sie richtet. Vielleicht kennen sie Mädchen, die sich ihnen mit ihren Gewalterfahrungen anvertraut haben. Oder sie kennen Jungen, die sexuelle Übergriffe erlebt haben und diese Erinnerungen sowie Scham- und Schuldgefühle jahrelang in ihren Gedanken, Körpern und Träumen behalten müssen. Die anwesenden Jungen reagieren unterschiedlich, mehrheitlich zeigen sie Interesse und Betroffenheit, andere sind eher ratlos, gleichgültig. Sie werden aufgefordert, über unterschiedliche Gewaltformen, über Täter- und Opferrollen, über kulturelle Unterschiede und über die Ursachen für die Entstehung von sexueller Gewalt nachzudenken.
Während die Jungen hinten diskutieren, begleite ich die Gruppe der jungen Frauen durch die Ausstellung, gebe Erklärungen zu den einzelnen Objekten und beantworte Fragen. Über die "Mauer der Verständnislosigkeit" wird eine der jungen Besucherinnen später schreiben:
"Ich betrat diese runde Zelle, worin sechs Köpfe mich von oben herab anstarrten. Ich war erschrocken über die ernsten und ziemlich bösen Gesichter, die ihr Ausstellungsmacherinnen da geschaffen habt. Und das machte mich traurig, mir vorzustellen, dass einem in einer solchen schwierigen Situation bestimmte Menschen durch genau solche Gesichtsausdrücke noch alles verschlimmern, und durch ihre Aussagen fühlt man sich sogar noch schuldig..."Eine Ecke der Ausstellung zeigt die Situation einer migrierten jungen Frau, die sexuelle und körperliche Gewalt in der Familie erlebt hat. Mit fünf grossen Bildtafeln wird ein Stück von Aishes Weg sichtbar, wo sie versucht, durch Negieren ihrer Herkunft ihre Vergangenheit zu verarbeiten. Wie in fast allen Gruppen, die ich durch die Ausstellung begleitet habe, sind auch in dieser Klasse Migrantinnen. Ich zeige ihnen und den inländischen Mädchen auf, dass für die meisten migrierten Mädchen die Familie eine andere Bedeutung hat als bei weissen Schweizer Mädchen, dass viele Migrantinnen ausserhalb ihrer Familien mit Rassismus und Vorurteilen konfrontiert sind.
Diese Tatsachen können für eine Migrantin den Ausbruch aus einer Gewaltsituation zusätzlich erschweren. Ich habe den Eindruck, dass einige der Besucherinnen froh sind, dass diese andere Realität hier einen Ausdruck findet und angesprochen wird.
Das Thema Gewalt gegen Mädchen ist für die Besucherinnen der Ausstellung spürbar, hörbar, erlebbar. Sie hören die Stimmen von betroffenen Mädchen, sie lesen deren Geschichten, sehen Bilder. Die Tonbildschau, in der Bewohnerinnen des Mädchenhauses Zürich zu Wort kommen, und für die sie selber fotografiert haben, zieht neben den Texten betroffener Mädchen und dem Computerspiel "Selma" die Aufmerksamkeit der jungen Frauen am meisten an. Sie werden konfrontiert mit Schmerz, Wut, Ohnmacht aber auch mit Kraft, Mut und mit Möglichkeiten, aus Gewaltsituationen auszubrechen. Treffend beschreibt eine andere Jugendliche ihre Eindrücke als Berg- und Talfahrt der Gefühle.
Der zweite Teil der Führung ist für die jungen Frauen als Nachbereitung konzipiert. Hier kommen sie zu Wort. Einigen fällt es schwer, ihre Eindrücke zu formulieren. Andere geben ihrer Betroffenheit, ihrer Trauer, ihren beklemmenden Gefühlen Ausdruck. Bei einer taucht die Frage auf, was sie machen können, damit ihnen das nicht passiert. Mir ist es wichtig, einerseits die Strategien der Täter aufzuzeigen, denen Mädchen ausgeliefert sind, und sie andererseits auf ihre Ressourcen aufmerksam zu machen. Ausführlich zeige ich Möglichkeiten auf, wie und wo von Gewalt Betroffene Hilfe erhalten können.
Einen weiteren Schwerpunkt setze ich mit dem Thema, wie sie einer Freundin helfen könnten, die von sexuellen Übergriffen in ihrer Familie erzählt. Zwei mutige junge Frauen sind bereit, in einem Rollenspiel zu zeigen, wie sie in einer solchen Situation reagieren würden.
Von Bewohnerinnen des Mädchenhauses weiss ich, dass sich die meisten zuerst eine gleichaltrige Freundin aussuchen, um über ihre Probleme zu reden. Im besten Fall hört sie zu, glaubt ihr und hat Ideen, wo sie Hilfe holen und wem sie vertrauen kann, um die schlechten Geheimnisse nicht mit sich herumtragen zu müssen. Dass die Thematik von sexuellen Übergriffen auch unter Jugendlichen kein Tabu ist und sie für sich selber oder für andere Hilfsangebote kennen, ist ein zentrales Anliegen der Ausstellung "Wege des Ausbruchs".
Zu schnell ist die Zeit vergangen. Ich weiss, dass die Mädchen wieder hinaus in ihren Alltag gehen einen Alltag, in dem es keine Selbstverständlichkeit ist, dass sie sich frei und sicher entfalten und bewegen können. Ich hoffe, einen kleinen Beitrag zu einer klareren Sicht auf die verschiedenen Facetten von sexueller Ausbeutung geleistet zu haben. Mit dem Wunsch, dass dieser Morgen den Schülerinnen Mut gemacht hat, auf ihrem Weg Gewalt zu erkennen, zu vermeiden und falls sie Opfer geworden sind sich Hilfe zu holen, gehe ich auf den Familien-Altar zu und lösche die Kerzen.
*Marie-Louise Pfister ist Teamfrau im Mädchenhaus Zürich.Julia vertritt die Rolle von vielen Kindern, die Opfer von sexueller Gewalt geworden sind. Nach einem schrecklichen Erlebnis mit dem Leiter eines Ferienlagers verändert sich das offene, aufgestellte Mädchen, wirkt abwesend und kann sich erst durch einen Zufall ihrer Lehrerin mitteilen.
Mit diesem Sachcomic haben die Juristin Helen Wormser, der Texter Walter Wigger und die Illustratorin Nadine Schnyder ein wichtiges Aufklärungsbuch geschaffen. Es ist gedacht als Sekundärprävention und will Minderjährige, die bereits Opfer einer strafbaren Handlung geworden sind, informieren und die Angst vor einem Strafverfahren mildern. Aus der Perspektive des Opfers Julia wird ein Fall und das strafrechtliche Verfahren anschaulich, aber auch etwas lehrhaft, erzählt. Die AutorInnen geben Antworten auf Fragen: Wie können Kinder und Jugendliche, die Opfer eines Übergriffs wurden, ihre Rechte durchsetzen? Was geschieht, wenn sie sich an die Polizei wenden? Wie werden sie begleitet und beraten, wenn ein Verfahren durchgeführt wird? Das Buch enthält die wichtigsten Verfahrensregeln des Opferhilfegesetzes und ein Glossar, das die juristischen Begriffe erklärt.
Auffallend ist, dass sich die Erwachsenen im Comic sehr korrekt verhalten. Sie wissen, wie verletzbar misshandelte Kinder sind, fühlen sich in die Situation des Opfers ein und bauen sein angeschlagenes Selbstwertgefühl auf. Es ist den MacherInnen des Buches ein Anliegen, dass auch Erwachsene, die mit Opfern von Gewalt zu tun haben, Anregungen für einen professionellen Umgang mit ihnen erhalten.
CZHelen Wormser, Walter Wigger, Nadine Schnyder: Julia ist kein Einzelfall. Wie das Opferhilfegesetz Kindern zu ihrem Recht verhilft. 2001, Luzern, Fr. 29.80. Zu beziehen bei: Verlag für Soziales und Kulturelles, Postfach 3252, 6002 Luzern,
Tel. 041 367 48 48, E-Mail: favela@hsa.fhz.ch
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