Es vergeht keine Woche ohne einen Zeitungsbericht über misshandelte oder kommerziell sexuell ausgebeutete Kinder und Jugendliche. Unicef spricht von zwei Millionen, mehrheitlich Mädchen. Darunter ist nicht nur Prostitution zu verstehen, sondern auch Pornographie mit Kindern und Kinderhandel. Es gibt verschiedene Formen der Kinderprostitution. Vor allem in asiatischen Ländern werden die Kinder und Jugendlichen an Bordelle, Saunas, Clubs und Diskotheken verkauft. Oft kommen die Agenten in die Dörfer zu den Familien und suchen dort die Kinder aus. Sie bezahlen der Familie einen Betrag von beispielsweise 500 Dollar, nehmen das Kind mit und verkaufen es an die Besitzer und Besitzerinnen der einschlägigen Etablissements.
Die 500 Dollar bilden den Grundstock der Schulden, die das Kind mit seinen sexuellen Dienstleistungen in den nächsten Monaten oder Jahren mit Zins zurückzuzahlen hat. Zu den Schulden kommen noch die Ausgaben für Kleider und Nahrung. Die Kunden zahlen direkt an den Bordellbesitzer, der in vielen Fällen selber die Schuldenbuchhaltung führt. Irgendwann teilt er dem Kind mit, dass es seine Schulden nun abgezahlt habe und frei sei. Erst dann kann es das Etablissement verlassen. Flieht es vor diesem Zeitpunkt, muss es mit brutalen Strafen rechnen, wenn man es wieder findet.
Stark betroffen davon sind Kinder, die ethnischen Minderheiten angehören. In Thailand beispielsweise Kinder aus Burma oder aus kleinen Bergvölkern Thailands, Laos, Chinas und Vietnams.
Weit verbreitet ist eine informelle Form der sexuellen Ausbeutung in der Tourismusindustrie des Südens und in Ländern Westeuropas. Betroffen sind Kinder, die an Stränden, in Bars, an Zug- oder Busbahnhöfen oder auf der Strasse ihre Kunden finden. Häufig stellt dies eine Möglichkeit dar, sich Geld für Nahrung, Unterkunft oder für Drogen zu beschaffen. Ein grosser Teil der Kinder und Jugendlichen, die in Asien, Afrika oder Lateinamerika den Touristen Zigaretten, Zeitungen, Blumen oder Nahrungsmittel verkaufen, stehen ihren Kunden auch sexuell zu Diensten.
Diese Form der sexuellen Ausbeutung kann für die Kinder und Jugendlichen sehr gefährlich sein. Weil sie nicht in einem Etablissement stationiert sind, müssen sie ihre Freier begleiten und sind ihnen ausgeliefert. Für diese Kinder ist es schwieriger, auf der Verwendung von Kondomen zu bestehen oder sich gegen perverse Wünsche ihrer Kunden zur Wehr zu setzen. Bekannt sind auch jene Formen, bei denen Pädosexuelle Häuser kaufen und mit Spielzeug, Videos und Schwimmbädern die Buben der Umgebung anlocken. Sie werden dann an andere Pädosexuelle ausgeliehen oder verkauft.
Armut ist eine der Ursachen für die weltweite Zunahme der kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern. Am Beispiel der Dominikanischen Republik lässt sich dies veranschaulichen. Einst ein traditionelles Zuckeranbauland, heute hochverschuldet, hat das Land 25 000 Kinderprostituierte, davon 63 Prozent Mädchen. Als die Rohstoffpreise in den 80er Jahren zusammenfielen, wurde die Dominikanische Republik von den internationalen Finanzinstituten gezwungen, andere Deviseneinnahmen zu schaffen. Heute überschwemmen jährlich rund 1,5 Millionen Touristlnnen das Land. Gleichzeitig strich die Regierung im Zuge der Strukturanpassung Subventionen, deregulierte und rationalisierte den Markt. In der Folge verteuerten sich Nahrungsmittel, Transport, Schule und Gesundheitsversorgung massiv. Die Arbeitslosigkeit beträgt 23 Prozent. Vor diesem Hintergrund ist Prostitution zu einer der Haupteinnahmequellen für Frauen und Mädchen geworden. Kaum ein Job in der Tourismusindustrie, ausgeübt von jungen Frauen und Mädchen, der nicht Prostitution mit einschliesst.
Ein anderes Beispiel ist Fortaleza, eine geteilte Stadt im Nordosten Brasiliens, mit zwei ganz unterschiedlichen Lebensrealitäten. Von den zwei Millionen EinwohnerInnen leben über eine halbe Million in Elendsvierteln, 6200 Kinder auf der Strasse. Sie arbeiten, um ihr Überleben zu sichern. Viele Strassenkinder schlagen sich durch als VerkäuferInnen von Kaugummi, Blumen, Zigaretten und Zeitungen, als Autowascher oder mit Diebstählen. Viele von ihnen erleiden Gewalt, die meisten zu Hause und auch auf der Strasse. 38 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind Opfer von sexueller Gewalt in der Familie. 17 Prozent der Mädchen, die als Kinderprostituierte arbeiten, hatten ihren ersten sexuellen Kontakt mit 8 bis 10 Jahren.
Der ökonomische Zusammenbruch eines Staates hat schwere psychosoziale Folgen für die Bevölkerung wie beispielsweise in Zambia im Süden Afrikas. Veränderte wirtschaftliche Strukturen haben die Bevölkerung in Armut und Elend getrieben. Die Sterblichlichkeit von Kindern unter fünf Jahren ist zwischen 1980 und 1992 von 152 auf 202 pro 1000 gestiegen. Die Säuglingssterblichkeit in der selben Zeitspanne von 80 auf 113. Das Bruttosozialprodukt hat von 650 US-Dollar 1980 auf 290 Dollar 1996 abgenommen. Während 1980 noch 80 Prozent der betroffenen Altersgruppe die Primarschule besuchten, waren es 1996 nur noch 77 Prozent. Auf Grund der Sparprogramme investiert der Staat jährlich im Bildungswesen nur noch 25 Cents pro Kind. Die Zahl der Strassenkinder hat sich zwischen 1991 und 1996 auf 70 000 verdoppelt.
Diese ökonomischen Entwicklungen mit ihren katastrophalen Folgen für Frauen und Kinder spielen sich nicht nur im fernen Lateinamerika oder Afrika ab, sondern in abgeschwächter Form auch in den Ländern Osteuropas. Die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern hat seit der Wende 1989 stark zugenommen. Städte wie Stettin, Budapest und Bukarest haben sich bereits zu Destinationen für Sextourismus gewandelt. Allein aus Stettin, das nur eineinhalb Stunden von Berlin entfernt liegt, fahren hundert Buben regelmässig nach Berlin, um sich dort zu prostituieren. Die Mädchen arbeiten eher an der Route Berlin-Warschau und bieten sich den Lastwagenfahrern an. In Rumänien schätzt man, dass etwa 2000 Kinder auf der Strasse leben. In Bukarest sind es 600 Kinder, die sich vor allem um den Nordbahnhof aufhalten. Die Kinder prostituieren sich, um ihr Überleben zu sichern. Früher waren die Kunden vor allem Rumänen, heute sind es zunehmend Westeuropäer. Wie in anderen osteuropäischen Ländern berichteten auch rumänische Kinder, dass sie bereits für die Produktion von Kinderpornographie hinhalten mussten.
Die einschneidenden Veränderungen im Zusammenhang mit Schuldenkrise und Globalisierung der Wirtschaft haben grosse psychosoziale Folgen. Die Familien und Dorfstrukturen zerfallen, die Familienmitglieder migrieren, siedeln sich in den Elendsvierteln der Grosstädte an, wo Enge, Elend und Arbeitslosigkeit eine grosse Belastung für Beziehungen und Familien werden. Gewalt und Drogen sind die Folgen.
Neben der Verarmung ist die gesellschaftliche Diskriminierung von Frauen und Mädchen ein weiterer Grund, dass Kinderprostitution überhaupt möglich ist. Dahinter steckt die patriarchale Haltung, die Mädchen und Frauen zu sexuellen Objekten herabsetzt. Dazu kommt ein weit verbreiteter Rassismus, der die sexuelle Ausbeutung von Kindern begünstigt. Sie ist nicht nur an den Rändern der Konsumgesellschaft anzutreffen, wo Armut und Elend sich ausbreiten. Auch in Japan und Europa gibt es Kinder und Jugendliche, die sich nach der Schule prostituieren, um mit dem verdienten Geld Armani-, Nike- oder Lewisbekleidung kaufen zu können.
Eine weitere Ursache für die sexuelle Ausbeutung von Kindern sind vor allem in Afrika Kriege und Bürgerkriege, aber auch AIDS. Familien werden auseinandergerissen, die Kinder verwaisen und migrieren in die Grossstädte, wo Prostitution die einzige Möglichkeit ist, um zu überleben.
Die Opfer dieser Ausbeutung bleiben ein Leben lang geprägt. Sie haben Mühe, normale Beziehungen einzugehen, es fällt ihnen schwer, Vertrauen zu schöpfen und neue Lebensperspektiven aufzubauen.
Diese Kinder erleiden grosse physische und psychische Verletzungen, die unter Umständen auch noch ihre Kinder und Enkelkinder belasten können. Viele werden mit dem HIV angesteckt und sterben an AIDS. Verbreitet sind auch alle anderen Geschlechtskrankheiten. Ein grosser Teil der Kinderprostituierten wird früh schwanger und hat etliche Abtreibungen hinter sich. Sie fühlen sich wertlos, schmutzig und wie tot. Um den Alltag zu überstehen, konsumieren viele der Kinder Drogen und Alkohol und kommen aus dem Teufelskreis nicht mehr heraus.
*Regula Turtschi arbeitete bis vor Kurzem für die arge kipro (s. unten). Beim vorliegenden Text handelt es sich um die stark gekürzte Fassung eines Vortrags.Der Begriff Kinderprostitution ist missverständlich. Prostitution wird mehrheitlich im Zusammenhang mit Frauen oder Männern verwendet und impliziert automatisch die Frage nach Freiwiligkeit. Wenn Kinder sich prostituieren, stellt sich diese Frage nicht, denn die körperliche Integrität und Sexualität eines Kindes sind in erster Linie zu schützen. Jedes Kind hat das Recht auf eine Entwicklung seines Körpergefühls und seiner Sexualität, die seinem Alter und seinen Wünschen angemessen ist.
Die Arbeitsgemeinschaft gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern (arge kipro) geht auf eine Kampagne in den Jahren 1991/92 zurück, die mehr als 30 schweizerische Organisationen im Rahmen einer internationalen Kampagne gegen Kinderprostitution durchführten. 1993 kam der Reader "Gebunden im Schweigen Sex mit Kindern ist ein Verbrechen" heraus. 1996 wurde die arge kipro als Verein mit Sitz in Bern gegründet. Sie ist offizielle Vertretung der ECPAT International, der weltweiten Bewegung gegen Kinderprostitution. Die arge kipro arbeitet vor allem an drei Projekten:
der juristischen Grundlagenarbeit laufender Verfahren von Schweizern, die im Ausland Kinder sexuell ausbeuten.
einer Recherche über die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern (KSAK) in der Schweiz.
der extraterritorialen Gesetzgebung in Europa, ein europäisches Law-enforcement Projekt.
Inhaltsübersicht | nächster Artikel |