Bilanz der schweizerischen Asylpraxis gegenüber Frauenflüchtlingen

Nach der 4. Weltfrauenkonferenz forderten die Frauen-NGOs in der Schweiz die Anerkennung von frauenspezifischen Fluchtgründen. Dazu gehört auch sexuelle Gewalt im privaten und öffentlichen Raum. Bei der letzten Asylgesetzrevision wurde die Forderung teilweise aufgenommen. Das neue Gesetz ist im Oktober 1999 in Kraft getreten. Es ist Zeit, über die entsprechende Asylpraxis Bilanz zu ziehen. Denn die nächste Revision beginnt diesen Sommer.

Von Anni Lanz*

Bei der letzten Totalrevision des Asylgesetzes war die Anerkennung von frauenspezifischen Fluchtgründen sehr umstritten. Ein breites Spektrum von Frauenorganisationen setzte sich aktiv dafür ein, dass Verfolgung auf Grund des Geschlechts als Asylgrund anerkannt werde. Die bürgerlichen Parlamentarier und das EJPD wehrten jedoch ab. Auch der Bundesrat wies die Forderung kategorisch von sich, das Geschlecht als Verfolgungsmotiv in den Artikel 3 zum Flüchtlingsbegriff aufzunehmen. Schliesslich kam es zu einem "Kompromiss": Unter den in Absatz 1, Art. 3 aufgezählten Verfolgungsgründen blieb das Geschlecht als Verfolgungsmotiv unerwähnt, während im Absatz 2 zur "Verfolgungsart" der Satz zugefügt wurde: "Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen". Diese Lösung ist eigenartig, werden doch damit die frauenspezifischen Fluchtgründe nicht zusammen mit den allgemeinen Fluchtmotiven, sondern in Zusammenhang mit der Verfolgungsart erwähnt. Fluchtgründe aller Art beziehen sich aber jeweils sowohl auf das Verfolgungsmotiv wie auf die Form der Verfolgung. Beim Beurteilen der Gefährdung von Flüchtlingen im Herkunftsland sollte von nun an also frauenspezifischen Fluchtgründen Rechnung getragen werden. Ist dies in die Praxis umgesetzt worden?

Der damalige Vorsteher des EJPD, Bundesrat Koller, sagte voraus, dass sich mit dieser gesetzlichen Bestimmung kaum etwas in der Praxis gegenüber Frauenflüchtlingen ändern werde. Dies war jedoch nicht die Absicht der Gesetzgeberinnen, die sich für die Änderung eingesetzt hatten. Es ist auch rechtlich nicht haltbar, denn Artikel 3 enthält ganz klar eine zusätzliche Verpflichtung der Asylbehörden.

Seit der letzten Gesetzesrevision haben sich die Asylbehörden diese Verpflichtung kaum zu Herzen genommen. Zudem hat sich die BFF-Praxis gegenüber Frauenflüchtlingen mit den beschleunigten Verfahren noch verschlechtert. Besonders gravierend ist, dass die Flüchtlinge in den raschen Verfahren kaum einen Rechtsbeistand finden.

Misshandlungen von Frauen als unerheblich betrachtet

Die Asylbehörden schieben die von Frauenflüchtlingen geltend gemachte Gewalt und ihre erlittenen sexuellen Übergriffe gerne als Vorkommnisse ab, die eben zu einem Frauenleben gehörten und mit denen sich Frauen wohl abzufinden hätten.

Explizit äusserte dies ein Asylrichter in seinem negativen Urteil gegen eine asylsuchende Kurdin. Frau X. hatte ausgesagt, dass ihr Dorf mehrmals staatlichen Operationen unterworfen und sie selbst einige Male auf dem Polizeiposten von den Sicherheitskräften sexuell belästigt worden sei. Hierzu ist anzumerken, dass in den kurdischen Gebieten der Türkei praktisch jede Frau, die durch staatliche Kräfte festgenommen wird, sexuellen Misshandlungen ausgesetzt ist.1 Der Asylrichter stellte jedoch weniger die Wahrscheinlichkeit der von Frau X. erfahrenen sexuellen Belästigungen in Frage, sondern erachtete vielmehr diese Eingriffe in die körperliche Integrität als belanglos: "…diese in den Jahren 1995 und 1996 an drei Anlässen wiederholten Berührungen entsprechen gewiss einem Eingriff in die körperliche Integrität, aber sie bezeugen keinen systematischen Charakter, der annehmen liesse, die Beschwerdeführerin wäre daran gehindert worden, ein Leben in Übereinstimmung mit der Menschenwürde in ihrem Land zu führen."2

Häusliche oder ähnliche Gewalt in der sogenannten Privatsphäre erachtet die Asylbehörde als unerhebliche Fluchtgründe. Als Frau F. aus der Mongolei in der Befragung schilderte, wie ihr Mann sie spitalreif geschlagen und erneut mit dem Messer bedroht habe, meinte die Befragerin: "Das sind Ihre privaten Probleme mit ihrem Ehemann. Sie sind nicht geeignet, die Anforderungen der Flüchtlingseigenschaft gemäss unseren Anforderungen zu erfüllen."

Frau F. trug noch in der Empfangsstelle, wo sie ein Asylgesuch stellte, zahlreiche sichtbare Spuren der Misshandlungen durch ihren Ex-Mann. Trotz der vollzogenen Scheidung verfolgte er sie überall hin; vor allem wollte er die Kinder, die der Scheidungsrichter Frau F. zugesprochen hatte. Frau F. erhob zwar Anzeige gegen ihren gewalttätigen Ex-Mann, doch dieser war nach kurzer Zeit wieder auf freiem Fuss.

Das Bundesamt für Flüchtlinge argumentierte in der Vernehmlassung zur Beschwerde, dass es sich bei den von Frau F. geltend gemachten Verfolgungsgründen um ein privates Beziehungsproblem handle, von dem eine Vielzahl von Frauen auf der ganzen Welt täglich betroffen sei. Das Amt stellt sich immer wieder auf den Standpunkt, dass "häusliche Gewalt" an sich eine nichtstaatliche Verfolgung sei, die nicht zur Asylgewährung führen könne. Dies ist in dreierlei Hinsicht fragwürdig: Erstens unterscheidet die Flüchtlingskonvention nicht nach Verfolgung im privaten und im öffentlichen Raum. Zweitens müsste überprüft werden, ob die Frau bei einer staatlichen Stelle um Schutz nachgesucht hat und ob ihr dieser Schutz gewährt worden ist. Drittens müsste auch in einem Nichteintretensverfahren geprüft werden, ob eine Wegweisung überhaupt zumutbar ist oder eine vorläufige Aufnahme gewährt werden muss.

"Entledigung des Asylbewerberproblems"

Die Rechtsvertretung von Frau N. konnte die freiwillige Mandatärin erst nach der Empfangsstellenbefragung übernehmen. Die Kontaktmöglichkeiten von Aussenstehenden mit Asylsuchenden in der Empfangsstelle sind sehr eingeschränkt. Die zweimal "geschiedene" Frau sollte in der Heimat zwangsverheiratet werden; so hatte ihre Familie entschieden. Sie war von ihrem Ehemann zweimal verstossen worden; darauf verschwand er mit den Kindern, die sie aufgezogen hatte.

Kurz nach der Befragung in der Empfangsstelle erhielt Frau N. eine vorsorgliche Wegweisung und wurde ins Nachbarland abgeschoben, wo sie in Ausschaffungshaft genommen wurde. Dort verlor sie den Verstand; eine benachrichtigte Asylgruppe brachte sie in ein Spital. Zweimal versuchte sie sich umzubringen, so dass sie jeweils lange in der Intensivstation bleiben musste. Wie sich nachträglich herausgestellt hat, erlitt sie in der überfüllten Basler Empfangsstelle sexuelle Übergriffe und wurde kurz darauf in Handschellen wie eine Verbrecherin von der Ausschaffungs-Polizei abgeführt.

Die "Drittstaatenregelung" erspart den Zufluchtsländern die Überprüfung der Fluchtgründe. Wichtigstes Abklärungskriterium ist der Reiseweg. Die "Optimierung" der "vorsorglichen Wegweisung", der Abschiebung in sogenannte sichere Drittstaaten, ist bei der bevorstehenden Asylgesetzrevision ein wichtiges Anliegen der Schweizer Behörden. Mit vielen Staaten schlossen sie bilaterale "Rückübernahme-Verträge" ab; doch die Anzahl der jährlich "vorsorglich Weggewiesenen" liegt immer noch unter 1000. Das Desinteresse von Drittstaaten an der Rückübernahme von Asylsuchenden steht den Rückschiebewünschen der Schweiz entgegen. Mittlerweile erfordert die Überprüfung eines Asylgesuchs im heutigen Schnellverfahren weniger Aufwand für die Behörden als die Einleitung eines Verfahrens zur Rückführung eines "illegal" Eingereisten in den Durchreisestaat. Deshalb arbeitet die Schweizer Regierung zügig auf eine Teilnahme am Dubliner und Schengener Abkommen hin. Die von lauter EU-Staaten umgebene Schweiz könnte sich damit, so hofft die Regierung, die Flüchtlinge vom Leibe halten. "Kein Asylgesuchsteller", der auf dem Landweg einreist, wäre "einer unentrinnbaren Not ausgesetzt" und keiner müsste mehr aufgenommen werden, ausgenommen die per Flug eingereisten Asylsuchenden. Die Schweiz könnte sich so "ihres Asylbewerberproblems zur Gänze entledigen". Diejenigen Asylsuchenden, welche die Schweiz mangels Nachweis dennoch nicht abschieben kann, sollen durch ein noch "härteres Aufenthaltsregime" bestraft werden.3

Durch das Tempo der Verfahren überfordert

Verfahren, die zu einer "vorsorglichen Wegweisung" oder einem Nichteintreten-Entscheid führen, gehen in der Regel blitzschnell. Der jeweiligen Verfügung wird die aufschiebende Wirkung entzogen, so dass binnen 24 Stunden ein Gesuch um die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eingereicht werden muss. Wird diese durch die Asylrekurskommission nicht wieder hergestellt, kann die Ausschaffung sofort vollzogen werden.

Asylsuchende sind gewöhnlich nicht in der Lage, solche Rechte wahrzunehmen oder überhaupt zu erkennen. Auch die von den Asylsuchenden kontaktierten SchweizerInnen sind häufig mit einer adäquaten Rechtshilfe überfordert. Abgesehen von den juristischen Kenntnissen erfordert eine wirksame Rechtshilfe angesichts der kurzen Fristen eine lückenlose Präsenz. Eine Rechtsvertretung muss in der Regel unentgeltlich geleistet werden und ist dazu noch kostspielig. In Windeseile müssen Dokumente und Belege aus fernen Ländern beschafft werden, wie für Frau I., die mit ihren zwei Kindern aus Afghanistan über Pakistan in die Schweiz geflüchtet war. Sie war in ihrer Heimat wegen verbotener Frauenarbeit vor Gericht geladen worden. Die Schweizer Behörde wollte sie unbedingt nach Pakistan zurückschaffen. Gilt Pakistan, das die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterschrieben hat und keine Flüchtlinge mehr aus Afghanistan aufnehmen will, für die Schweiz als "sicheres" Drittland? Die freiwillige Rechtsvertreterin setzte – notabene über die Ostertage – alle Hebel und Kommunikationsmittel in Bewegung; sie veranlasste zudem das UNHCR zur Intervention. Eine Stunde vor dem festgesetzten Rückschaffungsflug konnte die Asylbehörde schliesslich dazu bewogen werden, der afghanischen Flüchtlingsfrau und ihren Kindern die Einreise in die Schweiz zu bewilligen.

1 Seit rund 4 Jahren macht das Projekt "Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell misshandelt wurden" auf die Bedeutung sexueller Gewalt gegenüber Frauen, vor allem gegenüber Kurdinnen, aufmerksam und bricht damit ein Tabu-Thema. Der Jahresbericht 2000 dieser Organisation dokumentiert systematische sexuelle Gewalt gegen Frauen, vor allem gegenüber KurdInnen, bei der Festnahme auf Polizeiposten. Zur Zeit läuft in der Türkei ein Prozess wegen Beleidigung des Staates gegen Frauen, die an einem Kongress vom Sommer letzten Jahres öffentlich über solche Gewalt gesprochen haben. Mehr Informationen dazu: www.mediensyndicat.de/prozess.
2 Zitat aus dem französischen Urteil: "En ce qui concerne les attouchements dont elle dit avoir été la victime de la part de militaires lors de ses transferts aux postes de Pazarcik et de Narli, à les supposer vraisemblables, ils constituent, certes, des atteintes à son intégrité physique, commises à trois reprises dans les annés 1995 et 1996, mais ne revêtent pas un caractère systematique permettant d'admettre que l'interessée ait été objectivement empêchée de mener une vie conforme à la dignité humaine dans son pays."
3 Prof. Dr. jur Kay Hailbronner: Kompabilität des Schweizer Asylverfahrens mit Harmonisierungsbestrebungen im Asylrecht der Europäischen Union, Zürich 2000. Die Studie wurde im Auftrag des Bundesamtes für Flüchtlinge durchgeführt.
*Anni Lanz ist Mitarbeiterin bei Solidarité sans frontières in Bern

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