Ein Mann, durch sein Äusseres klar als orthodoxer Jude erkennbar, wird in Zürich erschossen, als er durch eine Strasse im Kreis 4 geht. Der Täter ist nicht gefasst, aber wir kennen ihn. Es ist der Krieg.
Israel führt Krieg gegen Palästina. Palästina führt Krieg gegen Israel. Dass dieser Krieg geführt wird, hat damit zu tun, dass die Juden während Jahrhunderten Opfer waren, Opfer eines alten und grausamen Krieges, der gegen Andersartige geführt wurde, weil sie andersartig waren und weil man andersartige brauchte, um von den Problemen abzulenken. Deshalb wurde die Entstehung des Staates Israel weltweit gefeiert, es wurde damit eine alte Rechnung beglichen. Dass gleichzeitig eine neue Rechnung eröffnet wurde, wollte man ausserhalb der arabischen Welt nicht wahr haben. Israel war eine Notwendigkeit des abendländischen Gewissens, und das morgenländische musste sich damit arrangieren. Es arrangierte sich nicht, und es kam zum Krieg, in dem Israel von den arabischen Staaten angegriffen wurde und erfolgreich zurückschlug. Ich war damals in Österreich und erinnere mich gut an den Schweizer Schauspieler, der erwog, nach Hause zu fahren, falls der dritte Weltkrieg ausbreche, und ich erinnere mich auch, wie erleichtert er war, als der Krieg nach 6 Tagen zu Ende ging. Ebenso erinnere ich mich an die Bilder von den Militärschuhen der ägyptischen Soldaten in der Sinai-Wüste, die sie ausgezogen und liegen gelassen hatten, um schneller davonrennen zu können, und ich erinnere mich daran, dass ich das Gefühl hatte, David hätte gegen Goliath gewonnen, und dass ich darüber Genugtuung empfand.
Das war vor 34 Jahren. Inzwischen ist Israel langsam zum Goliath geworden und fühlt sich von der Welt missverstanden. Ein wehrhafter David möchte es sein, ein Sympathieträger, der gern im Recht wäre. Aber das mag man ihm nicht mehr glauben. Seine Siedler sprechen eine andere Sprache. Zu lange schon läuft die neue Rechnung, und bezahlen müssen sie vor allem die Menschen, die einmal Palästina bewohnten; die Menschen Israels und die Menschen Palästinas leben weder miteinander noch nebeneinander, sondern gegeneinander, obwohl, wer wollte daran zweifeln, beide lieber in Frieden leben würden.
So ist ein neuer Krieg entstanden. Es ist der Krieg, der mich zur Zeit am meisten beschäftigt und der mich jeden Tag ratloser macht. Schon über ihn zu sprechen ist schwierig, und die Empfindlichkeit, mit der jüdische Freunde auf Ansichten reagieren, die nicht voller Verständnis für Israel sind, zeigt mir, dass es sich wirklich um einen Krieg handelt, obwohl er nie erklärt wurde.
Und er wird auch hier geführt, in Zürich zum Beispiel. Wir wissen bloss nicht, ob der erschossene Rabbiner das Opfer des neuen Krieges wurde oder das Opfer des alten Krieges, des alten Krieges gegen die Andersartigen, der auch bei uns dem Frieden hartnäckig trotzt. Wir wissen nur, dass Abraham Grünbaum ein Kriegsopfer war.
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