Pseudo-Versöhnung von oben statt Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Vier Jahre sind vergangen seit der Unterzeichnung des 'aufrechten und dauerhaften' Friedens zwischen der Guerilla URNG und der guatemaltekischen Regierung. Doch viel Unterstützung erhielten die zahllosen vom Krieg Betroffenen bisher nicht. Was unternehmen sie, um vom Staat Gerechtigkeit und Wiedergutmachung einzufordern und um sich selbst ein neues Leben aufzubauen?

Von Barbara Müller*

Die Menschenrechtsorganisationen Guatemalas begehen den 25. Februar als 'Nationalen Tag zur Würdigung der Opfer' und rufen damit die Ermordung tausender unbewaffneter Zivilpersonen in Erinnerung. Vor zwei Jahren stellte die als Ergebnis der Friedensverhandlungen eingesetzte Wahrheitskommission CEH an diesem Tag ihren Bericht "Memoria del Silencio" (Erinnerung des Schweigens) der Öffentlichkeit vor. Der Bericht vereint, zusammen mit demjenigen des Menschenrechtsbüros der katholischen Kirche, auf mehreren tausend Seiten ebenso viele ZeugInnenaussagen über den vom Militär begangenen Völkermord an der Zivilbevölkerung. Nebst der Forderung nach Anerkennung der staatlichen Verantwortung für den Genozid fordern die Menschenrechtsorganisationen Wiedergutmachung und Entschädigung der Opfer oder der Angehörigen.

Denkmäler statt Wiedergutmachung

Der diesjährige 25. Februar und die von den Menschenrechtsorganisationen veranstaltete Demonstration gingen ohne grosse Öffentlichkeit über die Bühne, bzw. wurden von den Gerüchten über einen möglichen Staatsstreich überdeckt. Dies ist nicht weiter erstaunlich. Solche Aktionen stossen bei der Regierung auf taube Ohren und werden von der Presse ignoriert. Auch die von der Wahrheitskommission CEH an die Regierung gerichteten Empfehlungen blieben bis heute weitgehend unbeachtet. In einzelnen Fällen anerkannte die Regierung vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission CIDH ihre institutionelle Verantwortung und versprach Wiedergutmachung. Mit Ausnahme der Errichtung einiger Denkmale fand bisher jedoch nichts in diese Richtung statt; Prozesse gegen die für die Massaker verantwortlichen Armeeangehörigen bleiben im Dschungel von Korruption und Repression stecken. Einige dieser Militärs bekleiden heute angesehene zivile Posten. Bekanntestes Beispiel ist der für die Politik der verbrannten Erde der 80er-Jahre verantwortliche General Efraín Ríos Montt, heute Präsident des guatemaltekischen Kongresses.

Die Anerkennung der Massaker als Genozid und die Verurteilung der Verantwortlichen sind das Hauptziel verschiedener Organisationen, die als Selbsthilfegruppen bereits während der Zeit des bewaffneten Konfliktes aktiv waren (GAM, FAMDEGUA, CONAVIGUA, etc.). In erster Linie sind Familienangehörige von entführten oder verschwundenen Personen und Überlebende von Massakern aktiv. Ihnen geht es nicht primär um materielle Wiedergutmachung, sondern um Aufklärung darüber, wo und unter welchen Umständen ihre Angehörigen umkamen, auch um diese würdevoll beerdigen zu können. Die Organisationen begleiten die Angehörigen vor, während und nach den Exhumierungen. Oft führt diese gemeinsame Verarbeitung des Erlebten dazu, dass die Leute ihre Angst überwinden und bereit sind, gegen die Verantwortlichen der Massaker auszusagen.

In den oben erwähnten Organisationen seien vor allem Mütter und Ehefrauen ermordeter Männer aktiv, erklärt eine Vertreterin von FAMDEGUA. Frauen, die in der Stadt leben, haben ihre lebensnotwendigsten Bedürfnisse meist mehr oder weniger befriedigt. Für sie ist die moralische und juristische Wiedergutmachung viel wichtiger als die materielle. Frauen auf dem Land hingegen sind oft aus Überlebensgründen gezwungen, sich neue Partner zu suchen. Diese neuen Partner seien jedoch mehr daran interessiert, dass die Frauen materielle Wiedergutmachung einfordern, als dass sie sich um den Verbleib ihrer Ex-Ehemänner oder Söhne kümmern.

Die zurückgekehrten Flüchtlinge, die Widerstandsdörfer, die intern Vertriebenen und die demobilisierte Guerilla fordern eher eine materielle Entschädigung, geht es ihnen doch darum, sich eine neue Existenz aufzubauen zu können. Die Friedensabkommen berücksichtigen diese Bevölkerungsgruppen in je separat ausgehandelten Verträgen. In der Realität müssen jedoch über jede einzelne Forderung, über jedes Detail zähe Verhandlungen geführt werden. Die Taktik der Regierung, die einzelnen Gruppierungen gegeneinander auszuspielen, indem sie zum Beispiel den zurückkehrenden Flüchtlingen Land anbietet, um das die intern Vertriebenen einen jahrelangen Kampf führen, erschwert eine gemeinsame Strategie der verschiedenen Organisationen.

Die wirtschaftliche Not steht im Vordergrund

Am stärksten verändert hat sich durch die Demobilisierung wohl das Leben der ehemaligen KämpferInnen der URNG-Guerilla. Eine Vereinbarung über ihre Wiedereingliederung ins Zivilleben ist Teil der Friedensabkommen. Einige erhielten ein Stipendium, um ihre abgebrochene Ausbildung abzuschliessen, andere bekamen eine Art Privatkredit für den Aufbau einer eigenen Existenz – meist in Form einer 'Tienda', einem kleinen Laden, wie es sie in Guatemala zu Tausenden gibt. Entsprechend gross ist die Konkurrenz: Die meisten der Tiendas haben innert kurzer Zeit Konkurs gemacht.

Eine dritte Möglichkeit haben, wie viele andere, die Ex-KämpferInnen der Siedlung "Nuevo Horizonte" gewählt: Die Errichtung einer Landwirtschaftskooperative. Am 24. und 25. Februar 2001 feierte die Siedlung den dritten Jahrestag ihrer Gründung. Im Ort leben rund 150 Familien, alles ehemalige URNG-KämpferInnen. Die Feierlichkeiten waren bescheiden, da das Geld für ein grosses Fest fehlte.

Die Hauptsorge der Leute in Nuevo Horizonte ist ein Kredit von rund 500 000 Franken, den sie mit Zinsen innerhalb von zehn Jahren zurückzahlen müssen. In den letzten drei Jahren haben ihre Projekte (Viehzucht und Aufforstung) keinen Gewinn abgeworfen, da das Land zuvor jahrelang nicht bewirtschaftet wurde. Diese Situation wiederholt sich in allen besuchten Landwirtschaftskooperativen der Ex-Guerilla: Die Finanzierungspläne wurden erst vor kurzem gemacht und ergaben, dass eine viel längere Amortisationszeit von Nöten wäre. Im Moment sind Verhandlungen mit der Regierung im Gange mit dem Ziel, die Rückzahlungsfrist auf eine realistische Dauer zu verlängern.

Die Frage der Integration ins Zivilleben‚ ist vielmehr eine wirtschaftliche denn eine soziale. Mit Ausnahme einiger weniger Fälle gab es keine Racheakte oder Angriffe seitens der Bevölkerung gegen die RückkehrerInnen oder die demobilisierte Guerilla. Allerdings geht die Schonfrist‚ mit der die Bevölkerung und die Regierung diese Gruppierungen bedacht haben, langsam zu Ende.

Schwieriger Einstieg ins Berufsleben

Der Aufbau einer neuen Existenz ist schwierig bis unmöglich, solange dies als ein individuelles Problem betrachtet wird. Flüchtlinge mit ihren im Exil geborenen Kindern erleben oft einen ‚Kulturschock', wenn sie in ein Guatemala zurückkehren, das nur noch wenig mit dem Land zu tun hat, welches sie vor Jahren verlassen haben. Das selbe gilt für viele Leute der Widerstandsdörfer, die bis zu dreizehn Jahren im Urwald versteckt gelebt haben. Sie lebten ständig auf der Flucht vor dem Militär, entwickelten jedoch ein System des Zusammenlebens, in dem es kein eigenes Geld, keinen eigenen Besitz und (als Beispiel für die unzähligen sozialen Probleme, mit denen sie heute konfrontiert sind) weder Alkoholismus noch Diebstahl gab.

Die meisten der Ex-KämpferInnen, die an den Demobilisierungsprogrammen teilgenommen haben, verbrachten viele Jahre in den Bergen. Sie haben – wie es einer der Compañeros zynisch ausdrückt – "dafür keinen Doktortitel erhalten". Der Einstieg ins Berufsleben ist für viele sehr schwierig.

Kein öffentliches Thema sind die psychischen und körperlichen Wunden, die fast alle Menschen in Guatemala während des 36 Jahre dauernden Krieg erlitten haben. Die Vergangenheit und die eigenen Erlebnisse werden meist individuell oder in sehr engem Kreis bewältigt. Die Frage, was für sie 'Versöhnung' bedeute, löste bei den meisten befragten Personen Irritation aus. Einig sind sich jedoch alle darin, dass unter den heutigen Umständen keine Versöhnung möglich ist

Sozialmedizinische Anstrengungen einzelner Organisationen wie z.B. von FAMDEGUA oder der katholischen Kirche scheitern oft an finanziellen Mitteln oder aus Prioritätsgründen. In einzelnen Gemeinden, in denen 'Täter' und 'Opfer' zusammenleben, wurde unter Aufsicht von Fachpersonen eine Art gemeinsame Katharsis durchgeführt: Im Rahmen spezieller Anlässe, meist verbunden mit der Errichtung einer Gedenkstätte, fanden Gegenüberstellungen statt und die Opfer hatten die Möglichkeit, die Täter öffentlich anzuklagen, ohne dass dies juristische Folgen hatte. Dies ermöglicht, innerhalb einer Gemeinde zusammen zu leben und zu arbeiten, macht aber Geschehenes nicht ungeschehen und hinterlässt nach wie vor viel Unausgesprochenes.

Spannende Initiativen trotz düsterer Aussichten

Erfreulich ist, dass vor allem unter einigen ehemaligen KämpferInnen der URNG, aber auch in den Widerstandsdörfern im Petén nach wie vor ein kollektives Verständnis vorhanden ist, das auch eine politische Perspektive enthält. Im Wissen, von den Friedensverträgen nicht viel erwarten zu dürfen und vielleicht auf Grund erster Enttäuschungen über die sich als Partei formierte URNG, entstanden einige interessante Initiativen: Ein Kommunalradio, eine Druckerei, einzelne kleine Produktionskollektive. Wenn es auch nicht das erklärte Ziel dieser Initiativen ist, geht es doch wesentlich darum, gemeinsam mit denjenigen Leuten, mit denen man/frau einen grossen Teil der Vergangenheit teilt, eine Zukunft aufzubauen.

Die Kriegsverletzten der URNG sind eine andere Gruppe, die, nachdem sie durch alle Maschen der Integrationsprogramme gefallen ist, selbst die Initiative ergriffen hat. In einer losen Allianz kämpfen sie zusammen mit den Kriegsverletzten des Militärs um Entschädigungszahlungen. Sie überlegen sich auch, als landesweite Behindertenorganisation aufzutreten. Eine weitere spannende Initiative ist diejenige der Töchter und Söhne von Menschen, die während des bewaffneten Konfliktes entführt oder ermordet wurden oder verschwunden sind. Sie fordern nicht nur Gerechtigkeit, sondern träumen auch von einer alternativen Gesellschafts- und Politikform und scheuen sich nicht, auch linke Gruppierungen und die Partei URNG öffentlich zu kritisieren. Sie drücken sich in einer in Guatemala lange Jahre vernachlässigte, kulturellen Form aus: Mit öffentliche Aktionen, Theater, Wandmalereien erarbeiten sie die Vergangenheit.

Auf die Frage, wie er sich Guatemala in fünf Jahren vorstelle, antwortete Paco Leiva von der Sozialdiözese der katholischen Kirche: "Die Freihandelsverträge schaden dem grössten Teil der Bevölkerung mehr, als dass sie ihm nützen. Die Bresche zwischen Arm und Reich wird grösser und zwar nicht nur im ökonomischen Sinn, sondern auch, was die sozialen Mitsprache- und Ausdrucksmöglichkeiten betrifft. In fünf Jahren wird niemand mehr über die Vergangenheit sprechen wollen. Es gibt eine starke Tendenz zur Individualisierung, zur Konsumgesellschaft. Die ältere Generation wird sich vielleicht noch an die Repression erinnern, für die Jungen wird die Vergangenheit ein Thema sein, das sie nicht interessiert. Ich habe eine grosse Hoffnung, aber die wird sich nicht in den nächsten fünf Jahren erfüllen: Der Fall Pinochet ist ein Zeichen dafür, dass es möglich ist, eine Veränderung im Justizsystem eines Landes zu erreichen und die Straflosigkeit zu durchbrechen. Aber für Guatemala sehe ich dies noch in weiter Ferne."

*Barbara Müller ist Mitarbeiterin der cfd-Frauenstelle in Zürich und des Guatemala-Infos "Fijate".

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