Inter- und intrastaatliche Kriege sowie gewaltsame Auseinandersetzungen sind zunehmend von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichnet. Die gezielte Vertreibung von Teilen der Bevölkerung sowie die Zerstörung ihrer kulturellen Güter und Lebensräume erschweren die Versöhnungsarbeit. Insbesondere in der Vor-Konfliktphase, die ein langer Prozess mit sehr deutlichen Vorzeichen ist, können Versöhnung und Konfliktbearbeitung einer Gewalteskalation vorbeugen.
Die Frühwarnung weist Indikatoren für Gewalttendenzen aus. Bereits hier wird deutlich, wie unterschiedlich Frauen und Männer betroffen sind. Die Kultur eines Mit- und Nebeneinander weicht einer Aufspaltung in Mächtige und Ohnmächtige und kristallisiert Opfer- und Täterprofile heraus. Es beginnt ein Angriff auf die menschliche Sicherheit, der von Rassismus und Sexismus geprägt wird. Frauen befinden sich im Zentrum dieses Angriffs, den sie in zweifacher Hinsicht erleben: Einerseits sind sie Teil des gesamtgesellschaftlichen Spaltungsprozesses, andererseits sind sie eine Gruppe, die einzig auf Grund ihrer Geschlechtszugehörigkeit diskriminiert wird. Indikatoren der Vor-Konfliktphase sind vor allem:
finanzielle Einschränkungen in sozialen Bereichen zu Gunsten des Ausbaus von Polizei- und Militärapparat
Kontrolle und Zensur der Medien
Anstieg nationalistischer Propaganda und Agitation
Bedeutung nationaler Symbole und Mythen
Definierung und Bewertung von Minderheiten
Änderungen beim Schulstoff, evtl. Unterrichtssprache
zunehmende Gewalt gegen Frauen und Kinder
Anstieg der Prostitution
Einschränkung der Religionsfreiheit
Anstieg des organisierten Verbrechens
Mobilisierung der Friedensbewegung, insbesondere Frauen und Mütterorganisationen
Proteste und Opposition
Mit der für diesen Prozess typischen Aufwertung der Geschlechter-Stereotypen werden auch die Zuständigkeitsbereiche für Frauen (privater Raum) und Männer (öffentlicher Raum) festgelegt:
Frauen wird der Zugang zu öffentlichen Räumen erschwert und dieser wird damit gefährlicher. Sie werden auf die privaten Bereiche und die Familie zurückgebunden und sind für die Organisation des Alltags zuständig. Drastische Kürzungen im medizinischen Bereich übertragen ihnen die Verantwortung für Krankheit und Pflege. Verfahrenswillkür und zunehmende Korruptionsbereitschaft führen zur Aushöhlung von Gesetzen und in der Folge werden gewalttätige Übergriffe nicht ernsthaft verfolgt. Persönlichkeitsrechte wie Freiheit und Eigentum werden eingeschränkt. Die Legalisierung des Kleinwaffenhandels bringt Gewehre und Munition in die Häuser und bedroht die Familien. Die häusliche Gewalt nimmt zu und familiäre Konflikte werden häufiger mit Waffengewalt beendet. Kinder können sich nicht mehr gefahrlos frei bewegen. Männer werden zur Verteidigung aufgerufen und trainiert. Frauen übernehmen frei gewordene männliche Arbeitsbereiche.
In dieser Phase, die im Zeichen von Aufbau von Feindbildern und Schuldigen steht, wäre Versöhnung bereits ein wirkungsvolles Instrument um fortschreitender Gewalt zu begegnen.
Symbolisch lassen sich Versöhnung und Konfliktbearbeitung mit einem Eisberg vergleichen. Der sichtbare, aus dem Wasser ragende Teil ist der Bereich der konstruktiven Konfliktbearbeitung. Diese Arbeit ist lösungsorientiert und zukunftsweisend. Der unsichtbare, unter dem Wasser liegende Teil ist der Bereich der Versöhnung, der in schwer abschätzbare Untiefen vordringt.
Versöhnung und konstruktive Konfliktbearbeitung sind zwei Grundelemente, auf denen eine nachhaltig friedliche Gesellschaft gedeihen kann. Beide Instrumente werden vor allem in Nachkriegssituationen unabhängig voneinander eingesetzt und spielen im Konzert der Friedensverhandlungen eher einen stillen Part. Sie sind nicht spektakulär, weil keine internationale Prominenz daran teilnimmt, sondern einzig Konfliktbetroffene. Der gemeinsame Feind von Versöhnung und Konfliktbearbeitung ist der Zeitdruck, unter dem Friedensverhandlungen heute stattfinden. Beide sind langwierige Prozesse, darin sind sie der Vor-Konfliktphase ähnlich; und beide setzen die Bereitschaft und Freiwilligkeit der Parteien voraus, ihren Anteil am Konflikt konstruktiv aufarbeiten zu wollen. Versöhnung ist ein Prozess der gemeinsamen Konfliktaufarbeitung und begünstigt eine Konflikttransformation. Durch die Reflexion der eigenen Rolle werden Perspektiven für die Zukunft eröffnet. Versöhnung und Konfliktbearbeitung benötigen professionellen Beistand bzw. Mediation.
Auch in der komplexen Nach-Konfliktphase werden die unterschiedlichen Auswirkungen von Friedensverhandlungen auf Frauen und Männer deutlich.
Gender wird relevant, wenn es um Budgetfragen geht und Frauen minimalste Unterstützung erhalten. Zwar weisen 35 Prozent der internationalen Hilfsprogramme Frauen als Begünstigte aus, tatsächlich haben davon lediglich 1,5 Prozent spezielle Auswirkungen auf Frauen. Wenn, wie beispielsweise im Dayton-Abkommen, Gender nicht einmal erwähnt wird, ist es im Nachhinein unglaublich kompliziert, Änderungen oder Ergänzungen einzufügen.
Die systematische Benachteiligung von Frauen wirkt sich aus. In den ersten Wahlen nach dem Krieg werden Frauen zu wenig sichtbar gemacht, sei es als Wählerinnen oder als Kandidatinnen. Damit wird die Chance vergeben, den Demokratisierungsprozess zu verbessern und andere Akzente, insbesondere im Bereich der Sicherheit zu setzen. Ein um Frauenperspektiven erweitertes Sicherheitsverständnis schliesst die Sicherheit der ganzen Gesellschaft mit ein. Hingegen zeigt die Praxis, dass unter dem militärischen Sicherheitsaspekt die Gewalt gegen Frauen zunimmt und vergewaltigte Mädchen immer jünger werden. Peacekeeping Missionen begünstigen häufig die Schattenwirtschaft, für die Frauenhandel und Zwangsprostitution ein lukratives Geschäft sind. In diesem Klima ist es für Frauen sehr schwierig, als gleichberechtigte Verhandlungspartnerinnen ernst genommen zu werden.
Ansatzweise findet ein Umdenken statt. Insbesondere die Methoden der zivilen Konfliktbearbeitung haben erkennen lassen, dass die Nach-Konfliktphase auch Chancen beinhaltet, z.B. neue Wertesysteme einzuführen. Hier sind alle Institutionen, die in Konfliktgebieten anwesend sind, gefordert, nach den gleichen Prinzipien zu arbeiten und nicht zuzulassen, dass der Friedensprozess Frauen marginalisiert. Dem Wunsch der Nachkriegsgesellschaften, möglichst rasch wieder zur Normalität zurück zu finden, darf nicht die Auseinandersetzung mit Gender-Fragen geopfert werden. Wer definiert was unter "normal" verstanden wird? Ist die Abwesenheit von Krieg gemeint? Oder die Rückkehr zu den Strukturen vor dem Krieg? Hier liegt die Gefahr, dass Fortschritt und Tradition zu männlichen und weiblichen Zuständigkeitsbereichen werden, die Frauen aus Politik und Entwicklungsprozessen ausschliessen.
Für UN Generalsekretär Kofi Annan sind Frauenrechte Menschenrechte und der UNO-Sicherheitsrat zeigt mit der Resolution 1325 vom Oktober 2000, dass es ihm Ernst ist, Frauen an die Friedensverhandlungstische zu setzen und empfiehlt den Mitgliedstaaten ein Gender-Training für Teilnehmende an Peacekeeping-Missionen.
Dass insbesondere in der westlichen Welt sowohl der Versöhnungsarbeit als auch der zivilen Konfliktbearbeitung Skepsis entgegengebracht wird, hängt vor allem mit einem materiellen Hintergrund zusammen. In der Tat: Für gestohlenes Gut gibt es keine Versöhnung ohne vorherige Rückgabe oder Entgelt. Versöhnung und Konfliktbearbeitung sind Prozesse, um sich mit der eigenen Rolle auseinander zu setzen. Opfer, TäterInnen und ZeugInnen müssen die Nähe aushalten; ihre Vergangenheit und ihre Wahrheiten, sowohl faktisch als auch emotional, stellen die Realität dar. Der gemeinsame Wunsch nach Aufarbeitung kann schmerzhaft an die Grenzen zwischen wechselnden Täter-Opfer-Rollen führen. Dieser Prozess erlaubt es vielleicht zum ersten Mal über die unterschiedlichen Erfahrungen als Frau und Mann zu sprechen.
Auch wenn eine Rückkehr zu einem Leben wie vor der erlittenen Gewalt oder dem Verlust von geliebten Menschen nicht möglich ist, hilft Versöhnung, die Würde des Menschen wieder herzustellen. Informationen über vermisste und verstorbene Angehörige sind wichtig für Abschied und Trauer der Überlebenen. Ein Opfer mag dem Täter vergeben, aber nicht der Tat. Deshalb sollten Versöhnungsprozesse nach einem Krieg nicht ohne rechtliche Massnahmen auch für reuige Täter abgeschlossen werden. Versöhnung ist kein Freispruch, sondern ein gemeinsamer Blick in die Zukunft. Für die Täterseite wird eine Haftstrafe nicht mehr eine verlorene Zeit sein, die als Vorbereitung für Rache dient Versöhnung ist Prävention, weil sie verhindert, dass die Realität der Gewalt zum Mythos für nachkommende Generationen wird.
*Maren Haartje ist Referentin für Gender-Fragen am SFS Institut für Konfliktlösung.Frauen- und insbesondere Mütterbewegungen sind durch ihre Proteste und ihre Versöhnungsarbeit bekannt geworden: Women in Black, Belgrad, Northern Ireland Women's Coalition, Wahrheits- und Versöhnungskommission, Süd-Afrika, White Scarf-Movement, Armenien, Las Madres, Argentinien, Russische Soldatenmütter, um nur einige zu nennen. Die internationale Gemeinschaft ignoriert diese unterschiedlichen Rollen und Erfahrungen jedoch weitgehend, weil sie nicht gewohnt ist, Frauen zuzuhören. Deshalb vermissen die Teilnehmer an den Friedensverhandlungen die Frauen auch nicht.
Maren Haartje
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