Zwei Strassen zur Versöhnung

Konflikte zwischen Nationen und Gruppierungen weit gehen über rationale Interessen hinaus. Es geht dabei immer auch um Misstrauen, Identität und Interpretation. Diese müssen in der Ver-söhnungsarbeit ins Zentrum gestellt werden. Dabei macht es einen wesentlichen Unterschied, ob es sich um inner-gesellschaft- liche Konflikte handelt oder um Konflikte zwischen ‚Feinden', die keine gemeinsame Zukunft sehen. Ein Vorschlag für unterschiedliche Versöhnungskonzepte.

Von Arie Nadler*

In den Sozialwissenschaften ist der Weg von der Konfliktlösung zur Versöhnung weitgehend unerforscht. Wir wissen einiges über Verhandlungen und Konfliktlösung, aber wir wissen so gut wie nichts über Versöhnung und Friedensförderung. Der Grund für diese Vernachlässigung scheint in unserem Verständnis von ‚Konfliktlösung' zu liegen. In den Wirtschaftswissenschaften, in der Politologie, in der Soziologie und in der Sozialpsychologie wird Konflikt als etwas verstanden, das durch Uneinigkeit zwischen AkteurInnen darüber entsteht, wie wertvolle Ressourcen aufgeteilt werden sollen. Dabei kann es sich um Land, Wasser oder finanzielle Werte handeln. Dementsprechend erklärt uns die Literatur, dass die Parteien Konflikte lösen, indem sie rationale Formeln für die Aufteilung dieser Ressourcen entwickeln.

Konflikte zwischen Nationen und Gruppierungen beinhalten aber Probleme, die über das rationale Interessenkalkül hinausgehen. Wenn Nationen, Stämme oder sogar Familien miteinander während Jahren in Konflikt stehen, werden sie gegenüber einander misstrauisch, fühlen sich als Opfer der anderen Seite und entwickeln unterschiedliche Versionen über die Geschichte des Konflikts. Diese Ansichten und Gefühle tragen zum Andauern des Konfliktes bei und verschwinden nicht einfach, wenn die ‚Führer' ihre Unterschriften unter ein Abkommen setzen. Irland, Südafrika, der Nahen Oste und der Balkan lehren uns uns im Gegenteil, dass die Schaffung einer Friedensrealität dann erst beginnt.

Südafrika und der Nahe Osten: so unterschiedlich die Konflikte, so unterschiedlich die Lösungsansätze...

Das Beispiel der südafrikanischen Wahrheitskomission hat die Vorstellungskraft vieler guter Menschen überall auf der Welt beflügelt (siehe Text von Nicole Billeter). Diese Idee wurde als Modell für andere Konfliktegebiete vorgeschlagen. Das hat damit zu tun, dass die Konzeption von ,Beichte' und ‚Vergebung' in westlichen Ländern stark verankert ist – sie passt in die religiöse Maxime verschiedener Religionen, dass Beichte zu Absolution und eben Vergebung führt. Die Grundidee der südafrikanischen Wahrheitskommission passt aber auch zur Psychotherapie des 20. Jahrhunderts, die uns lehrt, dass das ‚Darüber-sprechen' die ‚geplagte Seele heilt' und dass darin der Schlüssel zum Hintersichlassen der Dämonen der Vergangenheit liegt. Aber ist deshalb der südafrikanische Weg wirklich der Weg zur Versöhnung? Ich denke nicht. Dieser Weg funktioniert nur unter bestimmten Bedingungen.

Wir müssen zwischen den Konfliktarten, den Umständen der Konfliktlösungen und den Zielen der Versöhnung unterscheiden. Ich möchte dies anhand des Unterschieds des Konfliktes in Südafrika und des palästinensisch-israelischen Konfliktes aufzeigen.

In Südafrika handelte es um einen innergesellschaftlichen Konflikt, in welchem die weissen SüdafrikanerInnen die Andersfarbigen diskriminierten. Zur Festigung ihrer Dominanz bauten sie ein Apartheidsregime auf. Dieser Konflikt konnte nur durch die Abschaffung der Apartheid und seine Ersetzung durch ein demokratisches System beendet werden. Das Ziel der Versöhnung liegt hier in der sozialen Integration. Der schwarzen und der weissen Bevölkerung war klar, dass die Zukunft in einem Südafrika liegt, in welchem beide Seiten – Opfer und TäterInnen – zusammenleben würden. Ein Schritt, wie er durch die Wahrheitskommission gemacht wurde, hilft, eine entzweite Gesellschaft zu heilen. Hier handelt es sich also um eine inklusive Versöhnung, deren Ziel darin liegt, dass alle früheren GegnerInnen im gleichen Staat vereint werden.

Dies ist im Nahen Osten sehr anders. In den letzten 100 Jahren handelte es sich beim Streit zwischen Israelis und PalästinenserInnen um einen Konflikt zwischen zwei Nationen, die um das selbe Stück Land streiten. Die Konfliktlösungsansätze waren hier völlig anders. In diesem Konflikt geht es nicht um die Ersetzung eines ‚bösen' Systems durch ein besseres. Eine Lösung des nahöstlichen Konfliktes begann sich erst abzuzeichnen, als beiden Seiten beschlossen, nebeneinander zu koexistieren. Weder Israelis noch PalästinenserInnen haben ein integratives Ziel. Die Betonung liegt vielmehr auf Trennung, Unabhängigkeit und Koexistenz. Im Kontext der geopolitischen Realität des Nahen Ostens muss eine solche Trennung im Rahmen einer regionalen Kooperation stattfinden. Aber: Die Betonung liegt auf zwei nationalen Einheiten und nicht in einer Intergration innerhalb einer nationalen Grenze.

Zwei Strassen zur Versöhnung

Das südafrikanische Beispiel spiegelt sich in vielen innergesellschaftlichen Konflikten, die durch die Ablösung des unterdrückenden Systems gelöst wurden. Hier mögen Chile, Guatemala und Länder des früheren kommunistischen Blocks ähnliche Wege gegangen sein. Der israelisch-palästinensische Fall ist ein Beispiel für internationale Konflikte, in welche sich eine neue Realität durch Kooperation und Koexistenz von getrennten aber gleichwertigen Einheiten ergibt. In welches dieser beide Modelle gehören Serbien, Montenegro oder Kosov@? Trennung oder Integration? Diese Frage können nur die Menschen dort beantworten.

Die Ziele der Versöhnung können also verschieden sein: Trennung oder Integration. Diese beiden Ziele werden auf verschiedenen Wegen erreicht: Der eine führt über die sozioemotionale Versöhnung, die sich besser für das Ziel der sozialen Integration eignet. Der andere Weg ist derjenige der instrumentalen Versöhnung.

Sozio-emotionale Versöhnung

Hier wird auf konstruktive Weise mit den Gefühlen rund um den Konflikt umgegangen. Meist herrscht das Rachegefühl vor. Die Rächung von erlittener Gewalt führt wiederum zu Rachegefühlen – wir kennen die Spirale. Eine Hauptfunktion von Rache lieg darin, dass das Opfer seine oder ihre Kontrolle wiedererlangt. Die Wahrheitskommission scheint genau dies getan zu haben. Wenn der weisse Polizist des Apartheidregimes seine Schuld und Scham über vergangene Missetaten eingesteht, dann kehrt sich das Machtverhältnis zwischen ihm und seinem früheren Opfer um. Die Wahrheitskommission schuf also eine Situation, in welcher die Macht der Vergebung (oder eben nicht) in den Händen des früheren Opfers lag. Darin liegt meines Erachtens das Schlüsselelement des Erfolgs der Wahrheitskommission in Südafrika.

Sozio-emotionale Versöhnung ist also eine art sozialer Tanz, der auf zwei Schritten beruht: Erstens ein Eingeständnis der Schuld sowie eine Entschuldigung des Täters/der Täterin und zweitens eine Vergebung durch das Opfer. Dazu müssen wiederum zwei Bedingungen erfüllt sein: Einerseits muss Konsens darüber herrschen, wer das Opfer und wer der Täter/die Täterin ist. Andererseits braucht es genügend Vertrauen zwischen den Parteien, damit der geständige Täter seine Absolution auch wirklich erhält. Diese Bedingungen herrschen vor, wenn die frühere Opferseite nun der klare Sieger ist.

Meistens ist dies aber nicht der Fall. Häufiger entscheiden sich die Konfliktparteien für eine Koexistenz, ohne dass ein Konsens darüber geschaffen wird, wer ‚nur' Opfer und wer ‚nur' TäterIn war. Im Nahen Osten beispielsweise fühlen sich beide Seiten als Opfer. Hier nach der Wahrheit zu suchen, endet in gegenseitigen Anschuldigungen, verstärkten Stereotypisierungen und noch mehr des Misstrauen – eine sozio-emotionale Versöhnung schadet hier mehr, als dass sie nützt. Hier kann Versöhnung keine Wahrheit finden, sondern muss anerkennen, dass jede Seite ihre eigene Wahrheit kennt.

Die andere Seite auch als Opfer zu anerkennen, ist hier sehr schwierig. Jede Seite ist zu sehr mit dem eigenen Schmerz und der eigenen Opferrolle beschäftigt. Hier muss vielmehr ein Umfeld geschaffen werden, das eine Koexistenz ermöglicht, indem langsam Vertrauen geschaffen wird. Erst dann können sozio-emotionale Aspekte angesprochen werden. Zuvor müssen die beiden Seiten aber lernen, einander leben zu lassen.

Instrumentale Versöhnung

Dies ist ein langer Friedensförderungsprozess, der aus zahllosen Projekten besteht, in welchen die früheren GegnerInnen lernen, einander als gleichwertig anzuschauen. Anders gesagt: Während die sozio-emotionale Versöhnung auf psychologischen Veränderungen setzt, die neue Tatsachen schaffen, bearbeitet die instrumentale Versöhnung zuerst die Fakten, um psychologische Veränderungen zu ermöglichen. Sobald die Parteien in Verhandlungen zu einem Waffenstillstand kommen, verhandeln sie über das, worüber zuvor gestritten wurde – meist geht es dabei um Ressourcen. Erst wenn die umstrittenen Güter gerecht und zufriedenstellend verhandelt wurden, kann mit den ‚vereinenden' Aufgaben begonnen werden.

Das Friedens-Schaffens-Paradox

Die Zusammenarbeit für ein gemeinsames Ziele, gilt in der psychologischen Forschung als Königsweg zur Vertrauensbildung und zum Abbau von Abneigung. Diese Forschung sagt uns aber auch, dass beide Seiten gleich stark sein müssen, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Dies ist in der Versöhnungsarbeit selten der Fall. So wird das, was für den Stärkeren Kooperation bedeutet, von der anderen, schwächeren Seite leicht als Abhängigkeit erlebt. Dies gilt insbesondere für den Nahen Osten, wo Israel wirtschaftlich und technisch stärker als seine Nachbarn dasteht. Diese sehen die Stärke Israels als Gefahr an – man fürchtet die Dominanz des Stärkeren. Dies ist eine Quelle des Mistrauens zwischen AraberInnen und Israelis und kann – paradoxerweise – nur durch eine "gleichstellende Kooperation unter ungleichen PartnerInnen" gelöst werden.

Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Das Peres Friedenszentrum, gegründet um gemeinsame Projekte zwischen PalästinenserInnen, Israelis und weiteren regionalen AkteurInnen zu ermöglichen, entsandte eine Delegation zum palästinensischen Gesundheitsbüro, um ein gemeinsames medizinisches Projekt zu besprechen. Der Chef der israelischen Delegation öffnete im palästinensischen Büro seinen Laptop-Computer, stellte einen portablen Projektor auf und begann mit einer High-Tech-Präsentation – kurz: das Treffen verlief nicht gut. Die palästinensische Seite interpretierte die israelische Computerpräsentation als Dominanzgehabe.

Ohne Gleichstellung der PartnerInnen geht nichts. Diese muss aber kultiviert werden. Ein wichtiges Prinzip liegt in der kontinuierlichen Einbeziehung der PartnerInnen in allen Phasen und auf allen Ebenen des Projektes – auch in scheinbaren Detailfragen. Sehr nützlich kann es sein, eine dritte ‚Partei' einzubinden, die von den beiden anderen als neutral angesehen wird.

Rückschläge und Krisen

Friedensfördernde Projekte erleben immer wieder Krisen und Rückschläge. Wenn es jedoch einen Kern von Individuen gibt, die sich gegenseitig vertrauen, die von Anfang an dabei waren und die sich um den Erfolg des Projektes ernsthaft bemühen, dann besteht die Chance, dass sie das Ganze retten können. Es gibt viele Beispiele für gemeinsame, israelisch-palästinensische Projekte, die wegen Missverständnissen oder Fehleinschätzungen zusammenzubrechen drohten. Dank den Menschen, die von Anfang an mitmachten und sich gut kannten, überlebten die Projekte trotzdem. Es braucht also so etwas wie einen inneren Kreis, der als Puffer in Krisen funktioniert.

Kulturelle Unterschiede können Friedensprojekte ebenfalls gefährden. Zwischen PalästinenserInnen und Israeli gibt es kulturelle Unterschiede, auch wenn ich kein deterministisches Kulturverständnis aufbauen will. Die Unterschiede haben immer sowohl Vor- wie auch Nachteile in Verhandlungen. Es muss aber auf unterschiedliche Wertungen – zum Beispiel des Zuspätkommens oder der Absage von Treffen – Rücksicht genommen werden.

Auch der Inhalt des jeweiligen gemeinsamen Projektes kann ausschlaggebend für den Erfolg der Versöhnung sein. So findet zum Beispiel eines der erfolgreichsten gemeinsamen Projekte im Agrarbereich statt. Im kalten Frieden zwischen Israel und Ägypten hat die landwirtschaftliche Zusammenarbeit die Zeiten der härtesten politischen Auseinandersetzungen überstanden; ägyptische und israelische Bauern arbeiteten z.B. in Experimentierfarmen auch während des Libanonkriegs und während der Intifada zusammen. Ackerbau scheint auch die erste stabile Brücke zwischen Israel, Palästina, Jordanien und Marokko zu werden. Warum? Weil es um das menschliche Grundbedürfnis Nahrung geht? Oder weil LandwirtInnen als solche eine gemeinsame Identität haben?

Instrumentale Versöhnung sollte sich also um die realen, materiellen und dringenden Bedürfnisse der früheren GegnerInnen kümmern, die für beide Seiten zentral sind. Hier können sie sich finden.

*Arie Nadler ist Professor für "Sozialpsychologie von Konflikt und Kooperation" an der Uni Tel Aviv. Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Referates, das im Sommer 2000 in der jugoslawischen Zeitung REC erschien. Das Original ist im Internet zu finden unter: www.medienhilfe.ch/Infokreis/TROGEN2/WS3/ANA-Background.htm. Übersetzung: mr.

Das ganze Spektrum der Konfliktlösungsmechanismen

Untersucht man die verschiedenen Konfliktbearbeitungsansätze unter dem Gesichtspunkt der gegenseitigen Beteiligung der Konfliktparteien bei der Suche nach Lösungen für ihren Konflikt, ergibt sich obiges Schema: Zuoberst stehen die Konfliktlösungsmechanismen, die mit wenig (Tribunale) respektive ohne (Lösungen mit Gewalt) Beteiligung beider Konfliktparteien auskommen.

Am anderen Ende dieses Spektrums steht die Versöhnung: Sie sucht nicht nur nach Lösungen für den zugrundeliegenden Konflikt, sondern zielt darauf ab, die auf Groll und Feindschaft beruhenden Beziehung zwischen den gegnerischen Parteien in Richtung Freundschaft und Harmonie zu lenken. Um dies zu erreichen, müssen beide Parteien gleich stark am Friedensprozess beteiligt und an einer friedlichen Lösung interessiert sein.


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