Versöhnung ist etwas vom Schwierigsten

Von Ueli Wildberger*

Ein unvergessliches Bild taucht vor meinem inneren Auge auf: Eine Szene der Versöhnung, gespielt von kosovo-albanischen Flüchtlingen in einem Rückkehrseminar letzten Frühling in der Schweiz: Eine anerkannte Persönlichkeit als Vermittler verhandelt mit der Täter-Familie, um sie zu einer Bitte um Verzeihung gegenüber der Opfer-Familie zu bewegen, und ebenso mit der Opferseite, ob sie bereit ist, eine Entschuldigung zu akzeptieren. In Begleitung des Vermittlers liefert sich der Täter, der den Rache-Mord begangen hat, mit gebundenen Händen der Opferfamilie aus. Diese wiederum nimmt die Entschuldigung an. Sie löst die gefesselten Hände des Täters, gibt ihn frei als Zeichen der Vergebung!

Mit dieser eindrücklichen Pantomime führten die Kosovo-AlbanerInnen uns vor, wie sie gemäss ihrer uralten Gesetzestradition, dem Kanun, sich einen Versöhnungsprozess vorstellten – auch mit den Serben: Wenn die serbische Regierung sich bereit fände, sich offiziell für die Verbrechen während ihrer diktatorischen Herrschaft zu entschuldigen, würde ein Weg frei für einen Neuanfang…

Ein seelischer Prozess

Dieses Beispiel aus dem Kosov@ zeigt, worum es bei der Versöhnung geht, und was sie so überaus schwierig macht: In Konflikten und Krieg erleben unzählige Menschen scheussliche Grausamkeiten: Verfolgungen, Ängste, Folter, die Zerstörung ihrer Häuser und den Verlust ihrer Lieben. Viele tragen nicht nur äusserliche, sondern auch innerliche Verletzungen davon, und sind von ihren seelischen Wunden geprägt – oft ihr Leben lang. Beziehungen zwischen Nachbarn werden abgrundtief zerstört, Misstrauen, Vorurteile und Hass nisten sich ein, und prägen die Atmosphäre. In solchen Situationen genügt es nicht, auf Regierungsebene faire Abkommen auszuhandeln, und wirtschaftlich-technische Wiederaufbauarbeit zu leisten.

Echte Versöhnung setzt darum nicht nur einen Waffenstillstand und ein Ende der Unterdrückung und Gewalt voraus, sondern letztlich auch ein Schuldeingeständnis (Reue) der Täter, und die Bereitschaft zur Vergebung durch die Opfer.

Was aber, wenn die Täter ihre Schuld gar nicht einsehen, oder aber nicht bereit sind, sie einzugestehen? Das Erschütternde ist ja, dass die Machthabenden oft in ihrer eigenen Welt leben. Aus langer Gewohnheit sehen sie Diskriminierung und Unterdrückung als etwas Normales, ja Notwendiges an, und mauern sich in ihren Rechtfertigungen ein, warum z.B. in Südafrika Weisse mehr Chancen und einen besseren Lebensstandard verdienten als Schwarze. Solange die Machtverhältnisse so bleiben, besteht immer die Gefahr, dass die Herrschenden unter dem Deckmantel einer Generalamnestie einen billigen Frieden und eine 'Versöhnung' durchsetzen, die die begangenen Verbrechen verschweigt, und alles beim alten lässt (vergleiche die Amnestiegesetze unter dem Druck der Militärs in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern). Versöhnung ohne Gerechtigkeit ist nicht möglich.

Kippen andererseits die Machtverhältnisse, dann besteht die Gefahr, dass die bisherigen Unterdrückten ihren Hass- und Rachegefühlen freien Lauf lassen, und Vergeltung üben. Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter.

Versöhnung kann nicht "gemacht" werden

Versöhnung ist etwas vom Schwierigsten, erfordert sie doch eine innere Umkehr. Sie fordert die Bereitschaft, trotz dem erlittenen Unrecht über den eigenen Schatten zu springen und dem Feind die Hand entgegenzustrecken. Immer wieder haben Menschen in der Geschichte diese innere Grösse aufgebracht, denken wir nur an den berühmten Besuch des Franziskus beim Sultan als Geste der Freundschaft, die vom Sultan auch mit Hochschätzung erwidert wurde – und dies während der Kreuzzüge, als sich die beiden Religionen bis aufs Blut bekämpften.

Wie schwer das in der Realität sein kann, zeigt eine Episode aus der Versöhnungsarbeit des 'International Fellowship of Reconciliation/IFOR', zu deutsch Internationaler Versöhnungsbund, der aus dem 1. Weltkrieg heraus entstand, und heute Menschen in über 40 Ländern auf interreligiöser Basis im Einsatz für aktive Gewaltfreiheit im Sinne Gandhis und Martin Luther Kings vereinigt. Hildegard und Jean Goss-Mayr erzählen aus ihrer Erfahrung mit der deutsch-polnischen Verständigungsarbeit des IFOR nach dem Krieg. Eine polnische Freundin schrieb ihnen: "Es ist schwer zu beschreiben, wie schmerzhaft für uns Polen der Monat August ist, der Monat des Warschauer Aufstandes. Jede Strasse, jedes Stadtviertel hat seine blutige Geschichte... Dennoch müssen wir versuchen, Freundschaft und Liebe zwischen Polen und Deutschen aufzubauen!(...)" Jean und Hildegard berichten weiter: "An einem Abend hatten unsere Freunde in Warschau etwa dreissig Personen in eine Wohnung zum Gespräch eingeladen. Behutsam, von den polnischen Erfahrungen ausgehend, brachten wir die Bitte der deutschen Christen um Vergebung ein. Ein junger Schriftsteller sprang auf und rief: ‚Jean und Hildegard, wir lieben Euch, aber das ist unmöglich! Jeder Stein dieser Stadt hat polnisches Blut fliessen sehen. Wir können nicht vergeben.' Tatsächlich war es so, dass vierzehn Jahre nach Kriegsende die Wunden noch nicht geheilt waren, dass es, menschlich gesprochen, keine Vergebung gab... Wir fühlten, dass die Zeit nicht reif war. Deshalb schlugen wir, spät in der Nacht, als wir uns verabschiedeten, vor, miteinander das Vaterunser, das Gebet, das wir alle kennen, zu sprechen. Als wir an die Stelle kamen: ‚und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben...", hörten unsere polnischen Freunde zu beten auf. Und in eine grosse Stille hinein sagte der junge Mann: ‚Ja, ich verstehe, ich darf mich nicht mehr als Christ bezeichnen, wenn ich nicht vergebe. Gott helfe mir dazu!' Das Eis war gebrochen..."

Vergebung und Versöhnung kann nicht einfach 'gemacht' werden. Sie reicht tief in unsere spirituellen Wurzeln hinab. Es ist die Tragik der christlichen Kirchen, dass sie, die doch die Botschaft der Feindesliebe und Versöhnung verkünden und die Beichte kennen, so wenig Instrumente für einen kollektiven Versöhnungsprozess nach Kriegen entwickelt haben. Hauptsächlich die historischen Friedenskirchen wie die Quäker oder Mennoniten haben wertvolle Pionierarbeit z.B. mit Friedenseinsätzen in Konfliktgebieten, Dialogbemühungen und Vermittlungsmissionen geleistet.

Wegweisende Ansätze in Afrika

Wegweisende Ansätze kollektiver Heilungen und Wiedereingliederungen sind neuerdings im afrikanischen Kontext entstanden. Nach dem Bürgerkrieg in Mozambique fanden auf Initiative der Kirchen und lokaler Dorfältester an manchen Orten öffentliche Versammlungen statt. Kindersoldaten oder Milizionäre, die – zum grossenTeil gegen ihren Willen – zur Waffe gezwungen wurden und in ihren eigenen Dörfern gemordet hatten, erzählten vor versammelter Gemeinde ihre Geschichte, und wurden in einem traditionellen Reinigungsritus, bei dem z.B. ihre alten Kleider verbrannt oder die bösen Un-Geister mit Rauch verjagt oder Wasser abgewaschen wurden, wieder feierlich in ihre Dorfgemeinschaft aufgenommen.

Das bleibende Verdienst der Wahrheitskommission Südafrikas (siehe auch Artikel auf Seite 21) ist es, dass nach den 20 000 Anhörungen niemand mehr behaupten kann, die Greuel, die im Namen des Apartheidregimes – aber zum Teil auch von Befreiungsbewegungen – begangen wurden, seien blosse Unterstellungen, Lügen und Behauptungen. Südafrika ist gezwungen, auch den dunklen Seiten seiner Geschichte ins Gesicht zu blicken – und die politischen Folgerungen daraus zu ziehen, dass solche Brutalitäten nicht mehr geschehen werden, und den Opfern Wiedergutmachung zukommt. Damit kann aber ein Heilungsprozess in Gang kommen, der schliesslich zur Versöhnung führen kann.

Gehört werden und zuhören

Versöhnungsprozesse: Die Frage stellt sich, wie in Nachkriegsgesellschaften solche Schritte des Anhörens, des Aufbaus eines demokratischen Rechtsstaats, der Wahrheitsfindung, des Dialogs und der Begegnung zwischen Opfern und Tätern entwickelt werden können, auch wo sie offiziell nicht gefördert werden. Erste Erfahrungen sind da. Ein Versöhnungsprozess steht und fällt damit, ob es gelingt, möglichst vielfältige lokale Friedenskräfte aufzubauen, die solche Räume des Gehört werdens und Zuhörens erschliessen.

*Ueli Wildberger ist Mitglied des Forums für Friedenserziehung und selber aktiv in der Versöhnungsarbeit.

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