Nur wenige Medien hatten 1998 überhaupt erwähnt, dass die Proteste gegen die WTO keineswegs auf Genf beschränkt waren, sondern dass in 40 weiteren Städten auf allen Kontinenten Aktionen stattgefunden hatten organisiert von Gruppen, die aus den verschiedensten lokalen und regionalen Verhältnissen heraus die Politik internationaler Institutionen ablehnen und bekämpfen.
Am Anfang war Peoples' Global Action
Die Vernetzung, die in einem solchen Massstab dezentralisierte Aktionen erlaubt hat, geht auf die Aufbauarbeit der PGA1 zurück, und vor allem auf die Bemühungen der OrganisatorInnen und TeilnehmerInnen der Gründungskonferenz des PGA-Netzwerks im Januar 1998 in Genf. Mehr und mehr hat sich der Widerstand von den Strukturen der PGA gelöst, und eine Vielzahl von Mailinglisten bilden nunmehr das Rückgrat der Kommunikationsstruktur der globalen Mobilisierungen völlig dezentralisiert, anarchisch und den Erfordernissen des Moments entsprechend.
Auch wenn die PGA unterdessen nur eine Vernetzungsstruktur unter vielen ist, bleiben einige ihrer Grundprinzipien in grossen Teilen der globalen Mobilisierungen aktuell. Darunter fällt auch der Grundsatz, dass der Widerstand konfrontativ sein und nicht die Form von Lobbyarbeit annehmen soll. Ohne diesen Grundsatz vor Augen, lassen sich die globalen Mobilisierungen kaum verstehen. Wenn wir Erfolg oder Misserfolg des Widerstands einschätzen wollen, können wir nicht einfach in die Jahresberichte der WTO blicken und nach Änderungen in deren Politik Ausschau halten. Es geht den Mobilisierten nicht darum, die WTO menschlicher zu machen, oder gar ihren Vorsitzenden Michael Moore dazu zu drängen, seine PR-Strategie zu verbessern und politisch korrekter aufzutreten. Es geht weit fundamentaler um die Abschaffung der WTO und ähnlicher Institutionen, wie des IWF, der Weltbank, des WEF, der OECD. Und in einem ersten Schritt geht es um deren kompromisslose Delegitimierung.
Es geht darum, Lücken in der hegemonialen Durchsetzung neoliberaler Selbstverständlichkeiten' auszunutzen und die Widersprüche hinter der Fassade progressiver Einigkeit zum Sprechen zu bringen. In Seattle war es von vornherein klar, dass zwischen den reichen Industrieländern und den Regierungen der Dritten Welt', aber auch zwischen den USA und der EU derartige Spannungen existieren, dass es den MinisterInnen schwer fallen würde, selbst elementare Übereinkünfte zu treffen. Das hiess aber nicht, dass die MinisterInnen der Industrieländer hätte die Konferenz wie geplant in der gebotenen Ruhe und Ernsthaftigkeit abgehalten werden können - den diskreten Charme des Neoliberalismus nicht dahingehend hätten verwenden können, ihre neokoloniale Macht einmal mehr abzusichern und die jeweiligen Einflussbereiche gegeneinander auszumarchen. Die Proteste waren bestimmt nicht die Ursache des teuren Misserfolgs einige lauernde Widersprüche hervorgekitzelt haben sie aber allemal.
Zeichen des Erfolgs tauchen an den verschiedensten Stellen auf. Ein Weltwoche-Artikel2 nahm anfang dieses Jahres WEF-Begründer Klaus Schwabs philanthropische Neigungen nach Strich und Faden auseinander. Ob in Davos, in Seattle, in Melbourne oder in Prag irgendwie will den meisten BeobachterInnen zuhause vor den Fernsehschirmen nicht recht einleuchten, warum so viel Polizei, oder gar die Armee, aufgefahren wird, um Kritik zu verhindern. In Davos gar zum Schutz eines privaten Seminars. Wo auch immer die internationalen Institutionen ihre Treffen abhalten eine Form von Widerstand wird gegen sie entwickelt. Die WTO selbst steht bereits dermassen mit dem Rücken an der Wand, dass sie ihr diesjähriges Ministertreffen in Doha, der Hauptstadt des Halbinselemirats Katar, abhalten will. Ein peinlicher Fauxpas, den die teuerste PR-Strategie nicht wird wiedergutmachen können. Niemand wird auch nur eine Sekunde zögern, das Verlegen des Ministertreffens in ein Land, das keine Versammlungsfreiheit kennt und Frauen im öffentlichen Raum nur sehr bedingt duldet, mit dem Fiasko von Seattle in Verbindung zu bringen.
Eine der Stärken der neuen Form von globalen Mobilisierungen ist ihre Wendigkeit, Anpassungsfähigkeit und Ausdauer. Sie unterscheidet sich grundsätzlich vom Internationalismus, der anderthalb Jahrhunderte den Widerstand gegen die moderne Ordnung, gegen die Fabrikgesellschaft, prägte. Jener entwickelte ausgefeilte Theorien des Kampfes gegen gut sichtbare Institutionen die Fabrik, die Familie, die Kirche, den Staat. Die neuen Mobilisierungen sind keine Bewegung im internationalistischen Sinn schon eher eine Vernetzung, um ein aktuelleres Konzept aufzugreifen. Sie lassen unter den Mitwirkenden die verschiedensten Sichtweisen zu, ohne sich über Unterschiede wesentlich aufzuregen, und kämpfen praktisch theorielos und aus dem Bauch heraus gegen virtuelle Institutionen und konkretes Unrecht.
Diese post-ideologische' Haltung hat sowohl Vor- als auch Nachteile. Einerseits, und darüber wurde innerhalb der Mobilisierungen breit und kritisch diskutiert, versuchen sich rechte und ökologisch-essentialistische Gruppen sowie VerschwörungstheoretikerInnen mit Querfront-Ansätzen, Nischen innerhalb des Netzes zu sichern, während institutionalisiertere NGO mit ihrem Zivilgesellschafts-Jargon und ExpertInnentum auf den fahrenden Zug aufzuspringen Ansinnen, die wiederholt auf regen und effektiven Widerstand gestossen sind. Andererseits war ein Abschied vom Internationalismus, oder eher dessen Weiterentwicklung, nötig, nachdem die Kämpfe der siebziger Jahre die Fabrik als Institution gesprengt und das Kapital zur Flucht in die Globalisierung gezwungen hatten ein achtenswerter Erfolg, der jedoch den Kampfmitteln des Internationalismus die Effektivität raubte. Es brauchte also eine gänzlich neue Organisationsform, die den Frust zerschlagener Streiks abschüttelte, das Kapital bis in seine globalisierte Zuflucht verfolgte, die Farce neoliberaler Globalisierung' durchschaute und die Idee des Internationalismus in einen Kampf für eine echte Globalisierung münden liess. Eine Globalisierung, die sich selbst achtet, die keine Visa kennt, keine EU-Landwirtschaftspolitik, keine Krämerrechnungen zum Hervorrufen von Schuldenkrisen, keinen IWF zur Verwaltung der Armut, keine OIM zur Eindämmung der Migration.
An den globalen Mobilisierungen bleibt das Label der GlobalisierungsgegnerInnen' haften. Teile der Mobilisierten haben dies selbst verschuldet, indem sie Anti-Globalisierungs-Slogans auf die Strasse trugen zur grossen Freude von Neo-NationalistInnen aus aller Welt. Erst die Einsicht, dass es die internationalen Institutionen sind, die mit ihrem Dickicht von Regeln und Anordnungen einer echten Globalisierung Felsbrocken in den Weg legen, kann die globalen Mobilisierungen von der Unterstellung befreien, gegen die Globalisierung und rückwärtsgewandt zu sein. Die neue Phase des Engagements gegen die kapitalistische Ordnung kann sich nicht zum Ziel setzen, die Errungenschaften der vorherigen Phase, nämlich das Sprengen der Fabrik und des Nationalstaats und das Erzwingen der Globalisierung, rückgängig zu machen. Ganz im Gegenteil die gute Vorarbeit muss weitergeführt werden.
1 Peoples' Global Action Weltweite Aktion gegen Frei'handel und die WTO. Im Internet zu finden unter: http://www.agp.org 2 Weltwoche Nr. 4/01, 25.1.2001 *Alain Kessi lebt und arbeitet als Korrespondent in Sofia (Bulgarien).Inhaltsübersicht | nächster Artikel |