Vier Jahre Zivildienst – eine durchzogene Bilanz

Vor vier Jahren wurde einer alten Forderung der Friedensbewegung statt gegeben und ein Zivildienst für Militärverweigerer eingeführt. Damit verschwand das Thema Kriegsdienstverweigerung weitgehend aus den Medien. Doch ist die Situation tatsächlich so entspannt, wie es den Anschein macht?

Von Ruedi Winet*

Noch bis weit in die 80er-Jahre war das Thema Zivildienst heftigst umstritten. Jedes Jahr wurden mehrere Hundert Männer wegen ihrer Weigerung in den Militärdienst einzurücken, zu mehrmonatigen unbedingten Gefängnisstrafen verurteilt. Im "neutralen Kleinstaat Schweiz" bedeutete Kriegsdienstverweigerung die Zerstörung "der Selbständigkeit und Identität dieser politischen Gemeinschaft, der freiheitlichen Friedens-Ordnung und der dadurch Gewähr leisteten reichen Vielfalt". Militärdienstverweigerer waren Psychopathen, Propheten oder Parasiten1, was in Aussagen wie dieser zum Ausdruck kam: "Auffällig ist immer wieder die abstrakte, blutleere Wirklichkeitsfremdheit bei der monotonen Argumentation der Dienstverweigerer."2

Restriktiver Zugang zum Zivildienst

Die Einführung des Zivildienstes wurde erst möglich, nachdem 1989 mit der Berliner Mauer und der Armeeabschaffungsinitiative einige (Denk-)Blockaden wegfielen. Selbst die SVP konnte 1990 endlich eingestehen, "die Schweiz hinkt beim Zivildienst im europäischen Umfeld – selbst im osteuropäischen – hinterher".

Doch brauchte es dann noch zwei Volksabstimmungen, bis es 1996 endlich so weit war und das Zivildienstgesetz vom Bundesrat in Kraft gesetzt wurde.

Formal gesehen ist das schweizerische Zivildienstgesetz in seinen Zulassungsbedingungen eines der restriktivsten in Europa: Wer Zivildienst leisten will, muss sich als Erstes bereit erklären, ein gegenüber dem Militärdienst um das Anderthalbfache verlängerten Ersatzdienst zu leisten. Dazu bereit zu sein genügt aber nicht als Tatbeweis, denn der Gesuchsteller muss der Behörde ausserdem schriftlich und mündlich einen Gewissenskonflikt gegenüber dem Militärdienst glaubhaft machen. Trotz dieser Hürden rechnete der Bundesrat vor Einführung des Zivildienstes damit, dass bis zu 2500 Gesuche pro Jahr eintreffen würden, möglicherweise sogar mehr. Er ging aber nicht davon aus, dass auch der Armeebestand in diesem Ausmass abnehmen würde: "Die meisten Gesuche werden von Personen gestellt werden, die heute entweder den Militärdienst verweigern oder sich medizinisch ausmustern lassen."

Der "blaue Weg" bleibt Konkurrenz für Zivildienst

Vier Jahre nach dem Start des Zivildienstes kann eine Bilanz gezogen werden über Erfülltes und Unerfülltes. Das Interesse am Zivildienst steigt zwar Jahr für Jahr kontinuierlich, aber auf eher tiefem Niveau. Zurzeit werden jährlich etwa 1500 Zivildienst-Gesuche eingereicht. Konkurrenziert wird der Zivildienst aber weiterhin durch den "Blauen Weg", wie die Ausmusterung aus dem Militärdienst aus gesundheitlichen Gründen genannt wird. Dabei wird vor allem der Ausstieg über den Psychiater immer beliebter: Allein 1999 wurden in der Schweiz mehr als 14 000 Männer für dienstuntauglich befunden, 41 Prozent davon aus psychischen Gründen.3 Auf die Frage, weshalb sie statt des Zivildienstes den Gang zum Psychiater wählen, führen die jungen Männer vor allem zwei Antworten an: Entweder "Der Zivildienst dauert zu lang" oder "Meine berufliche Karriere ist mir am wichtigsten."

Auch in den Tätigkeitsberichten der Beratungsstellen für Militärverweigerung und Zivildienst zeigt sich diese Tendenz. So führt die Zürcher Beratungsstelle Jahr für Jahr mehr Beratungen durch. Waren es 1999 etwas mehr als 3000 Anfragen gewesen, erhielt sie im vergangenen Jahr schon gegen 4000 Anfragen. Etwa ein Drittel davon betraf den Zivildienst, etwas mehr das Thema Arztzeugnisse. Viele Beratungssuchende streben aber gar nicht den vollständigen Ausstieg aus dem Militär an, sondern wollen nur nicht unfreiwillig zum Unteroffizier gemacht werden. Trifft also die Einschätzung führender Offiziere zur heutigen Haltung der meisten Jugendlichen – "Ja zur Armee, aber ohne mich!" – zu?

Neun von zehn Gesuchen werden gutgeheissen

Das Gesuch für den Zivildienst ist relativ aufwändig. Es braucht dafür einen ausführlichen Lebenslauf, eine Darlegung der Gewissensgründe und einen Strafregisterauszug. In den Beratungen zeigt sich immer wieder, dass viele Jugendliche sich davon überfordert fühlen. Dabei muss immer wieder klar gemacht werden, dass ein Zivildienstgesuch nur Chancen auf Gutheissung hat, wenn darin ein Gewissenskonflikt gegenüber dem Militärdienst beschrieben wird. In der Regel folgt dann eine persönliche Anhörung vor einer Kommission. "In der Regel" deshalb, weil seit 1999 für Zeugen Jehovas die Sonderbestimmung gilt, dass bei ihnen auf eine persönliche Anhörung verzichtet werden kann.

Die Erfahrungen der Gesuchsteller in der Anhörung sind unterschiedlich, viele fühlen sich ernst genommen, während sich andere in die Zeit der Militärgerichte zurückversetzt glauben. So müssen sich die Gesuchsteller in der etwa einstündigen Anhörung Fragen gefallen lassen wie:

• Was würden Sie in einer Situation tun, in der ein Leben für ein anderes geopfert werden muss? Soll bei einer schwierigen Schwangerschaft die Mutter oder das Kind gerettet werden?

• Ein Tier überquert die Strasse, während Sie Autofahren. Würden Sie es überfahren, damit Sie das Leben Ihrer Beifahrer retten könnten.

• Was würden Sie tun, wenn Sie ein Todkranker um Sterbehilfe bitten würde?

• Wie würden Sie sich verhalten, wenn Sie oder jemand aus Ihrer Umgebung angegriffen wird?

• Sie beanstanden die übermässigen Kosten des Militärs im Vergleich zur Hungersnot in der Welt. Die Schule, wo Sie studieren, gibt einen Haufen Geld aus. Ist das nicht dasselbe?

Wer die Anhörung hinter sich gebracht hat, darf in der Regel mit der Anerkennung seines Gesuchs rechnen. Neun von zehn Gesuchen werden in erster Instanz gutgeheissen. Dabei haben sich die Erfolgschancen seit 1997 ständig erhöht, mussten doch anfänglich zwei von zehn Gesuchstellern mit einer Ablehnung rechnen. Zurückzuführen ist dies vor allem auf die Rekurskommission (Reko), bei der Beschwerden gegen erfolgte Ablehnungen eingereicht werden können. Die Reko, unter Führung eines ehemaligen Militärgerichtspräsidenten, heisst Gesuche tendenziell bei erbrachtem Tatbeweis im Sinne eines persönlichen Engagements für die eigenen Überzeugungen gut. Dagegen legt die Zentralstelle Zivildienst als Erstinstanz Wert auf die Schilderung des Gewissenskonfliktes.

Abgelehnt wird ein Gesuch vor allen dann, wenn der Gesuchsteller "individualistische" Begründungen einbringt: "Gesuchsteller wollen keinen Militärdienst leisten, weil sie Befehle nicht ausführen, sondern über sie zuerst diskutieren möchten. Andere lehnen den Befehlston oder die Prinzipien von Disziplin und Gehorsam ab. Wieder andere sehen im Militärdienst für sich selbst einfach keinen Sinn. Einzelne stellen nur Nützlichkeitserwägungen an. Sie erachten die Armee als weniger nützlich als den Zivildienst oder beklagen den Leerlauf während einzelner militärischer Dienstleistungen. Wer allein so argumentiert oder sich allein auf seine Bereitschaft zur Erbringung des Tatbeweises hinweist, beruft sich nicht auf moralische Normen. Solche Gesuche lehnen wir ab."4

Zivildiensteinsätze: Noch nicht perfekt, aber passabel

Nur selten gibt es dagegen negative Rückmeldungen über den Zivildienst selbst. Die Einsatzmöglichkeiten sind breit: Es gibt sie heute in pflegerischen und in handwerklichen Tätigkeiten, teilweise auch im Büro; möglich sind Zivildiensteinsätze vorwiegend in gemeinnützigen Institutionen, deren Spektrum vom WWF über Jugendherbergen bis zur Caritas reicht. Insgesamt sind in der Schweiz gegen tausend Institutionen und Organisationen als Einsatzbetriebe für Zivildienstleistende anerkannt. Zu viele Hindernisse bestehen noch für Auslandeinsätze, sind sie doch heute nur ausnahmsweise und nur in der Entwicklungszusammenarbeit möglich.

Unbefriedigend für manche "Zivis" sind die gesetzlichen Vorgaben für den Ablauf: Einige würden den Dienst gerne an einem Stück ableisten, was heute in der Regel nicht möglich ist; andere, z.B. Hausmänner mit Kindern, wünschen einen zu ihrem Alltag kompatibleren Zivildienst, den sie in Teilzeit erfüllen können.

Mit der für 2003 angekündigten Armeereform soll auch das Zivildienstgesetz überarbeitet werden. Gewisse Veränderungen ergeben sich fast zwingend aus den Änderungen im Militärgesetz. Mit der vorgeschlagenen Verkürzung des Militärdienstes wird auch der Zivildienst gegenüber heute um einen Monat weniger lang dauern. Möglicherweise wird auch der heute geltende Faktor für die Länge des Zivildienstes ("das Anderthalbfache des noch zu leistenden Militärdienstes") reduziert werden. Notwendig wird auch die Möglichkeit sein, das Zivildienstgesuch, anders als heute, bereits vor oder spätestens an der Aushebung einreichen zu können. Wünschbar wäre zudem, dass künftig auch Militärdienstuntaugliche zum Zivildienst zugelassen werden. Der grösste Handlungsbedarf besteht jedoch darin, den Zivildienst in Richtung Friedensförderung im In- und Ausland auszubauen. Hier könnte der Bund mit wenig Aufwand, wichtige Erfahrungen für einen Zivilen Friedensdienstes sammeln.

1 Titel eines Buches des Thuner Waffenplatzpsychiaters Stucki
2 So Walter Gut, Staatsanwalt, Auditor beim Militärgericht, in: "Soldat in Zivil" 1970
3 Mililtärärztlicher Dienst auf eine einfache Anfrage von Nationalrätin Hildegard Fässler, Oktober 2000
4 Samuel Werenfels, Leiter Zentralstelle Zivildienst, an der Zivildiensttagung 1997
* Ruedi Winet ist Leiter der Zürcher Beratungsstelle für Militärverweigerung und Zivildienst.

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