Wer hilft den Opfern des zweiten Tschetschenien-Krieges?

Vor nicht allzu langer Zeit verpasste der russische Staat seiner Immigrationsbehörde eine Schlankheitskur. Als Folge davon sind heute Flüchtlinge und Vertriebene aus verschiedenen Krisenregionen der GUS sich selbst überlassen und auf die Hilfe der wenigen nichtstaatlichen humanitären Organisationen angewiesen. Im Interview schildert die russische Frauenrechtlerin Natalja Nelidova die Situation.

Von Viktor Kirchmeier

Die Situation einer beachtlichen Zahl von Menschen, die der zweite Krieg in Tschetschenien nach Moskau und nach anderen russischen Städten verschlagen hat, interessiert die Behörden nicht. Für den Staat sind es ungebetene Gäste auf Zeit, eine Art "displaced persons". Statt Integrationsprogramme gibt es Schikanen, selbstredend erhalten sie keinerlei finanzielle Unterstützung.

Diesen Menschen zu helfen, die ihr Hab und Gut und oft auch ihre Nächsten während der Bombardierungen verloren haben, ist das Anliegen von Natalja Nelidova, Mitbegründerin des humanitären Dienstes für Flüchtlinge, der Organisation "Warmes Zuhause", die in Moskau und Umgebung tätig ist. Die wenigen MitarbeiterInnen des "Warmen Zuhauses" helfen mit Rat und Tat, bieten den oft verschüchterten Menschen soziale Integrationsprogramme und psychologische Hilfe. Angefangen bei der Wohnungssuche bis hin zu Englisch- und Computerkursen für Kinder, die meistens in Privatwohnungen stattfinden, da "Warmes Zuhause" keine staatliche Hilfe erhält und nicht mal ein eigenes Zuhause besitzt. Zurzeit wird mit einer englischen humanitären Organisation über die Möglichkeit verhandelt, eine Räumlichkeit in Moskau zu beschaffen, die man dann gemeinsam nutzen könnte. Seine bisherigen Erfolge verdankt das "Warme Zuhause" den freiwilligen HelferInnen aus der Schweiz, den USA, Grossbritannien und Neuseeland.

Auf Einladung der Göttinger "Gesellschaft für bedrohte Völker" besuchte Natalja Nelidova kürzlich Deutschland. Nach Westeuropa führt sie die Suche nach Kontakten, nach Möglichkeiten finanzieller und moralischer Unterstützung.

Wem helfen Sie? Wo besteht Handlungsbedarf für "Warmes Zuhause?"

Natalja Nelidova: Wir sind eine nicht-kommerzielle Organisation, gegründet von Frauen gegründet mit dem Ziel, Flüchtlingsfrauen und Kindern beizustehen. Soweit unsere Mittel reichen, helfen wir heute allen, die sich an uns wenden. Das sind vor allem Menschen, die während des andauernden Krieges aus Tschetschenien geflüchtet sind. Während es im ersten Krieg bis 1996 russische oder gemischte Familien waren, haben wir es heute vorwiegend mit tschetschenischen Familien zu tun. Unter unseren Schützlingen sind auch Menschen aus Berg-Karabach und aus Lettland.

Wie werden diese Flüchtlinge untergebracht? Was tut der Staat für sie?

Natalja Nelidova: Wir haben keinerlei Möglichkeiten, ihnen eine Unterkunft zu bieten. Wir versuchen diesen Menschen daher bei der Suche nach Mieträumen behilflich zu sein; besonders Familien mit behinderten Kindern, die während der Kriegshandlungen teilweise ernsthafte körperliche Schäden erlitten, leiden unter der Wohnungsnot. In einigen Fällen haben wir Wohnraum besorgen können, die meisten finden allerdings bei Verwandten und Bekannten Unterschlupf. Es ist nicht selten, dass sich zehn bis fünfzehn Menschen ein Zimmer teilen. Das bedeutet sehr viel Stress für alle Seiten. Der Staat überlässt diese Menschen sich selber und dem Zufall.

Heisst das, dass diese Vertriebenen nicht als Flüchtlinge anerkannt werden und entsprechend auch keine finanzielle Unterstützung vom Staat bekommen?

Natalja Nelidova: So ist es. Und das macht die Lage viel schwieriger als im ersten Krieg. Der Staat bezeichnet diese Opfer des zweiten russisch-tschetschenischen Krieges offiziell als "zeitweise versetzte Personen". Diese schwammige Formulierung entbindet die Behörden von jeglicher Verpflichtung gegenüber diesen Menschen. Es gibt keinerlei finanzielle Überbrückungshilfen für Vertriebene in Russland.

Dies treibt nun einige Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet nach Europa, auch in Deutschland treffen einige Flüchtlinge aus Tschetschenien ein. So wie das deutsche Asylrecht beschaffen ist, werden viele wegen mangelnder Beweise einer individuellen Verfolgung abgewiesen und nach Russland ausgewiesen. Was erwartet sie dort?

Natalja Nelidova: Das ist ein furchtbares Schicksal und verursacht eine vollkommene Hoffnungslosigkeit. Wie gesagt, in russischen Städten sind diese Flüchtlinge höchst ungern gesehen, in Tschetschenien droht immer noch Lebensgefahr. Im Allgemeinen sind sie sich selber überlassen. Ich denke, dass die Europäische Union sich ihrer Verpflichtung diesen Menschen gegenüber bewusst werden sollte. Der Westen hält sich bisher im Grossen und Ganzen aus dem Konflikt heraus. Nun, wenn es tatsächlich keine andere Lösung gibt, ausser den Krieg weiterzuführen, dann lasst doch gefälligst die ZivilistInnen überleben! Rettet doch Frauen und Kinder! Und es ist in diesem Krieg heute tatsächlich so, dass alle vernichtet werden, ohne Rücksicht auf ihre Nationalität. Während der "Säuberungsaktionen" werden auch RussInnen umgebracht. Die Rehabilitation der russisch-stämmigen Flüchtlinge – ich arbeite vorwiegend mit Frauen –, die aus Tschetschenien fliehen mussten, ist die schwierigste Aufgabe. Sie befinden sich in einer absoluten Vertrauenskrise, weil sie nicht verstehen können, dass ihr eigener Staat sie bekämpft.

Wie viele Menschen konnten denn aus Tschetschenien fliehen?

Natalja Nelidova: Mir sind zwei recht unterschiedliche Zahlen bekannt. Man spricht entweder von etwa 100 000 oder von rund 200 000 Flüchtlingen, die sich in Moskau und Umgebung aufhalten. Im letzten Fall werden meiner Meinung nach Menschen dazugezählt, die noch im ersten Krieg geflüchtet sind. Ich erachte eine Zahl um 130 000 als glaubwürdig. Die Gesamtzahl der Flüchtlinge in Moskau, also auch aus anderen Regionen, kann ich nicht einmal schätzen. Es sind sehr viele.

Wieso wurde die russische Flüchtlingsbehörde plötzlich so gut wie wegrationalisiert? Und mit welchen Folgen?

Natalja Nelidova: Die Folgen sind empörend. Auch in ihrer ursprünglichen Form war die Hilfe der Flüchtlingsbehörde nicht ausreichend, aber immerhin gab es eine Anlaufstelle, wurde wenigstens etwas Hilfe geleistet. Die Regierung hat sich nun von diesem Problem gänzlich abgewandt. Für alle Belange der Flüchtlinge ist nun eine kleine Abteilung im Ministerium für Nationalitätenfragen zuständig, und das heisst, dass die meisten Betroffenen nicht einmal den Weg dorthin finden. Welche Arbeit diese Behörde verrichtet, ist mir nicht bekannt. Die Reform fand sehr plötzlich statt, sogar die NGO, die mit Flüchtlingen arbeiten, haben zunächst nichts davon erfahren. Die geflüchteten Menschen haben auf einmal keine Aussicht mehr auf einen offiziellen Status und kein Recht auf Wiedergutmachungszahlungen.

Also hat der russische Staat die Arbeit und die Sorgepflicht für seine Not leidenden BürgerInnen auf die wenigen NGO und humanitären Organisationen abgewälzt, die in Russland keine grossen Vorteile geniessen?

Natalja Nelidova: Ja. Der Staat unterstützt die NGO überhaupt nicht, wir haben auch kaum steuerlichen Vorteile. Es ist aber wichtig, diese Organisationen aufrechtzuerhalten und auch, neue zu schaffen. Sonst stehen sehr viele Not leidenden Menschen vor dem Nichts. Und für den Staat schafft es in der Zukunft grössere Probleme. Das ist sozialer Sprengstoff.

Von wem kommt die Hilfe aus dem Westen?

Natalja Nelidova: Wir haben für unsere Projekte etwas Geld von den QuäkerInnen erhalten. Seit vier Jahren unterstützen sie uns finanziell. Ausserdem halfen uns evangelische ChristInnen aus Zürich und dem Kanton Basel. In diesem Sommer erhielten wir auch die erste Unterstützung der tschetschenischen Diaspora in Moskau. Es waren über 10 000 US-Dollar, und diese Summe hat es ermöglicht, mit Flüchtlingskindern im Sommer zur Kur zu fahren.

Das Fundraising findet ausserhalb des Landes statt. Kümmert dieser blutige und sinnlose Krieg niemanden in Russland?

Natalja Nelidova: Darüber denke ich selber die ganze Zeit nach. Eine breite Koalition von KriegsgegnerInnen wäre sehr von Nöten. Aber in Russland fehlt diese Erfahrung, es mangelt oft einfach an Konstruktivität. Wir haben viele Ideen, viele Wünsche, aber es gelingt nicht, sie zu realisieren. Es ist unsere Aufgabe, eine breite BürgerInnenbewegung ins Leben zu rufen. Es gibt ja in Russland unzählige andere Probleme nebst dem Tschetschenienkrieg. Zum Beispiel die allgemeine Armut: Es ist nicht zu begreifen, dass Unsummen für diesen internen Krieg ausgegeben werden. Er führt mittlerweile zu akuten ökologischen Problemen und dies wird auch Folgen haben für Russland und den Westen. Wir brauchen Hilfe und Know-how der europäischen NGO. Wir müssen die Menschen in Russland überzeugen, wie notwendig eine solidarische Bewegung ist, die einen Einfluss auf die politischen Entschlüsse ausüben könnte. Mehr als die Hälfte aller RussInnen befürworten den Krieg nicht direkt. Aber wir sitzen und warten, es geschieht nichts; wir haben noch nicht die Macht, etwas zu tun. Diese Situation muss sich ändern.

Können Sie mit der Unterstützung russischer PolitikerInnen rechnen?

Natalja Nelidova: Tja, ... früher hatten wir noch Hoffnungen auf Jawlinski und seine Partei "Jabloko" gesetzt, aber jetzt sympathisiert er mit Putin, und seit langer Zeit hat er keinerlei Äusserungen mehr gegen den Krieg gemacht. Ich setzte auch einige Erwartungen in Irina Hakamada, eine der wenigen Frauen in der russischen Politik. Aber auch sie enttäuschte uns mit ihren militaristischen Reden.

Es ist bekannt, dass die russische Bevölkerung allen Menschen misstrauisch begegnet, in welchen sie AuswandererInnen aus dem Kaukasus zu erkennen glaubt. Es ist auch bekannt, dass Flüchtlinge aus Tschetschenien von Behörden schikaniert werden. Wie könnte man auf diese Willkür reagieren?

Natalja Nelidova: Die Antwort ist relativ einfach. Es bedarf des Verständnisses, dass wir ein Land sind, ein Volk. Das Bewusstsein dafür fehlt heute. Dieser Krieg wurde als ein Instrument geplant, mit welchem die Regierung die ganze Anspannung, die Unzufriedenheit, all die Aggression, die sich in der Gesellschaft angestaut hatte, ableiten konnte. Dies weil die Regierung selber nicht mehr in der Lage ist, sich um soziale Probleme zu kümmern.


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