Die Schweiz und die UNO — eine unendliche Geschichte?

188 Staaten gehören heute den Vereinten Nationen an. Lediglich die Schweiz, der Heilige Stuhl und Tuvalu sitzen noch auf der Beobachterbank — wobei der pazifische Zwergstaat im Herbst 2000 der UNO beitreten wird. Warum ist die Schweiz der Weltorganisation bis heute ferngeblieben? Ein Blick zurück auf eine Geschichte, deren Happy End noch immer aussteht.

Von Daniel Möckli*

Mehr als ein Jahrzehnt nach der blamablen Abstimmungsniederlage von 1986, als 75% der Bevölkerung einen UNO-Beitritt verwarf, hat der Bundesrat sein Anliegen erneut auf die politische Agenda gesetzt: Bis 2003 soll die Schweiz Mitglied der Vereinten Nationen werden. Die Regierung will endlich der Anomalie ein Ende setzen, dass sie zwar zu den grössten Geldgebern der UNO zählt, als bald letzter Staat aber auf die Mitgliedschaft und damit auf entscheidende Mitspracherechte verzichtet.

Die Chance eines positiven Ergebnisses im zweiten Urnengang besteht durchaus. Sowohl die überwiegende Mehrheit des Parlaments als auch ein breit abgestütztes Initiativkomitee unterstützen das Vorhaben des Bundesrats. Dennoch ist die GegnerInnenschaft aus rechtskonservativen Kreisen nicht zu unterschätzen. Gruppierungen wie die Auns oder die SVP erachten eine UNO-Mitgliedschaft als unvereinbar mit der schweizerischen Neutralität. Sie bekämpfen den UNO-Beitritt somit mit demselben Argument, das der Bundesrat früher selbst als Begründung für das Fernbleiben von den Vereinten Nationen anführte.

Zwar ist eine solche Sicht heute nicht mehr stichhaltig, doch genügt ein blosses Feststellen dieses Sachverhalts keineswegs. Vielmehr müssen die BeitrittsbefürworterInnen heute zwei Dinge offen darlegen: erstens, warum der Bundesrat in der Tat lange Zeit eine Inkompatibilität der Neutralität mit dem Friedenssicherungssystem der Vereinten Nationen postulierte; und zweitens, aus welchen Gründen er von dieser Einschätzung abgekommen ist und seine heutige Neutralitätspolitik einem Beitritt in die Weltorganisation nicht mehr im Wege steht. Nur wenn der Wandel der schweizerischen UNO-Politik thematisiert und begründet wird, lassen sich die Argumente der BeitrittsgegnerInnen einwandfrei widerlegen. Betrachten wir diesen Wandel also etwas genauer.

Der Entscheid gegen einen Beitritt 1945/46

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Schweizer Neutralität international sehr wenig. Vor allem die amerikanischen Vorwürfe, die Schweiz habe während des Krieges die Achsenmächte wirtschaftlich begünstigt, lasteten schwer auf dem Bundesrat. Zusätzlich sah sich die Schweiz aber auch durch die Gründung der Vereinten Nationen vor grosse Probleme gestellt. Die neue Weltsicherheitsorganisation schuf ein modernes Friedensvölkerrecht, das den Krieg ächtete und die Neutralität als völkerrechtliches Instrument nicht akzeptierte. Künftig sollte gemeinsam, ohne Ausnahme, gegen FriedensbrecherInnen vorgegangen werden, und zwar mittels wirtschaftlicher und militärischer Zwangsmassnahmen.

Erstaunlicherweise reagierte der Bundesrat auf die schwindende internationale Akzeptanz der Neutralität nicht mit einer Verengung, sondern mit einer Verabsolutierung dieser Maxime. So erklärte er bei jeder Gelegenheit, die Neutralität sei für die Schweiz von existentieller Bedeutung und könne nicht eingeschränkt werden. Im Unterschied zu anderen neutralen Staaten wie etwa Schweden war die Eidgenossenschaft deshalb auch nicht bereit, der UNO als stillschweigend Neutraler beizutreten und die Neutralität nur dann anzuwenden, wenn die kollektive Sicherheit nicht funktionierte.

Dennoch war man im Bundesrat in der unmittelbaren Nachkriegszeit überzeugt, sich einer Teilnahme an der neuen Weltordnung der UNO nicht vollständig entziehen zu können. Deshalb signalisierte Aussenminister Max Petitpierre den 51 Gründungsstaaten, dass die Schweiz beizutreten gewillt sei, sofern die UNO die eidgenössische Neutralität explizit garantiere. Die damit verbundene Befreiung der Schweiz von einer Teilnahme an Zwangsmassnahmen wollte der Bundesrat mit der Übernahme Guter Dienste innerhalb der Weltorganisation kompensieren.

Stolzer Sonderfall ausserhalb der UNO

Trotz intensiver Sondierungen liess sich aber keinerlei Unterstützung für eine schweizerische Sonderrolle in den Vereinten Nationen finden, weshalb sich die Regierung anlässlich der ersten Erweiterungsrunde der UNO im August 1946 gegen ein Gesuch um Mitgliedschaft entschied. Das Argument des neutralen Sonderfalls, das die Welt zunächst von einer eidgenössischen Sonderrolle innerhalb der Weltorganisation hätte überzeugen sollen, diente fortan als Rechtfertigung für das Abseitsstehen.

Mit dem beginnenden Kalten Krieg, welcher die UNO ab 1947 zunehmend blockierte, nahm der Beitrittsdruck auf die Schweiz rasch ab. Entsprechend zelebrierte nun der Bundesrat die helvetische Andersartigkeit geradezu. So machte er geltend, dass der Kleinstaat Schweiz dank seinem Fernbleiben von der UNO der Welt seine Guten Dienste anbieten und damit eine bedeutende internationale Rolle übernehmen könne. Unterstrichen wurde diese Grundhaltung durch den von Petitpierre 1954 erlassenen neutralitätspolitischen Leitsatz, wonach eine Teilnahme an "politischen" internationalen Organisationen im Widerspruch zur schweizerischen Neutralität stünde. Folgerichtig trat die Eidgenossenschaft zahlreichen "technischen" multilateralen Foren bei, insbesondere den meisten Spezialorganisationen der UNO. Das Abseitsstehen der neutralen "Friedensinsel Schweiz" von der UNO-Hauptorganisation wurde hingegen zu einem eigentlichen Identitätsmerkmal der Schweizer Aussenpolitik stilisiert.

Unbefriedigende Kurskorrektur vor der Abstimmung 1986

Seit den späten 1950er Jahren wurde dieses helvetische Rollenverständnis jedoch durch internationale Veränderungen erschüttert, die für die Schweiz als Nichtmitglied der UNO eine zunehmende Isolation bedeuteten. Nicht nur hatte die Weltorganisation mit der Aufnahme Österreichs (1955), Chinas (1971) sowie der ehemaligen Feindstaaten BRD und DDR (1973) eine Quasi-Universalität erreicht. Nachteilig wirkte sich für die Schweiz auch das ausgeweitete Aufgabenspektrum der Vereinten Nationen aus, die im Zuge der Dekolonisation vermehrt im wirtschaftlichen, sozialen und völkerrechtlichen Bereich aktiv wurden.

Parlamentarische Vorstösse von Helmut Hubacher und Willy Bretscher brachten deshalb in den späten 1960er Jahren die Frage des UNO-Beitritts wieder auf den Tisch. Der Bundesrat tat sich jedoch äusserst schwer mit einem Beitrittsentscheid. Drei Berichte zwischen 1969 und 1977 sowie das positive Fazit einer breit abgestützten Konsultativkommission 1975 waren nötig, bis die Exekutive eine schweizerische UNO-Mitgliedschaft endlich als "wünschbar" bezeichnete. Zwar war die Notwendigkeit eines Beitritts in der Regierung mittlerweile unbestritten, doch schieden sich die Geister an der Schlüsselfrage, wie die helvetische Neutralitätspolitik fortan zu gestalten sei, um nicht in Widerspruch zur kollektiven Sicherheit zu geraten.

Die Antwort des Bundesrats konnte zunächst nicht überzeugen. So argumentierte er vor der UNO-Abstimmung 1986, die Schweiz werde auch in der UNO an ihrem traditionellen Neutralitätskurs festhalten. Ein eigentlicher Kurswechsel sei nicht nötig, weil die durch den Kalten Krieg blockierte Organisation in der Praxis kaum je Zwangsmassnahmen anordnen könnte, die mit der Schweizer Neutralität nicht vereinbar wären. Sollte es trotzdem einmal soweit kommen, so würde der Bundesrat den Primat der Neutralität geltend machen und die UNO-Beschlüsse nicht mittragen.

Eine solch windungsreiche Erklärung musste in der Bevölkerung Skepsis hervorrufen. Drei Jahrzehnte isolationistischer, die Unvereinbarkeit von Neutralität und UNO-Mitgliedschaft betonender Rhetorik liessen sich nicht einfach mit dem Fingerzeig auf praktische Kompatibilitäten vergessen machen. Das klare Nein von 1986 sprach in diesem Zusammenhang Bände.

Entscheidender Wandel 1993

Nach dem deutlichen Ergebnis der Abstimmung war zwar vorerst das Beitrittsziel wieder in den Hintergrund gerückt, nicht aber die Frage der Positionierung gegenüber dem UNO-Friedenssicherungssystem. Im Zuge der starken Zunahme von UNO-Sanktionsmassnahmen und friedenserhaltenden Operationen nach dem Ende des Kalten Krieges geriet die Schweiz stark unter Druck. Wollte sie als Nichtmitglied faktisch nicht RechtsbrecherInnen unterstützen und sich damit international diskreditieren, so musste der Bundesrat nun endlich eine völkerrechtlich glaubwürdige Neutralitäts- und Sanktionspolitik definieren.

Die Wende hin zu einer nach internationalem Recht einwandfreien Argumentation bezüglich des Verhältnisses von Neutralität und kollektiver Sicherheit vollzog die Regierung 1993. Im damaligen Bericht zur Neutralität vertrat sie erstmals den seither gültigen Standpunkt, dass die Neutralität auf Zwangsmassnahmen der UNO fortan keine Anwendung mehr finde und folglich in diesem Kontext nicht mehr aktiviert werde. Zwischen einem Staat, der die Völkerrechtsordnung in schwerwiegender Weise missachte, und der gesamten übrigen Staatengemeinschaft könne es keine neutrale Haltung geben. Zudem sei die UNO niemals Kriegspartei, sondern ein Organ der internationalen Rechtsdurchsetzung, so die Argumentation des Bundesrates.

Handlungsbedarf vor dem zweiten Urnengang

Damit hat die Schweiz heute das Spannungsfeld zwischen Neutralität und kollektiver Sicherheit aufgelöst. Selbst als Nichtmitglied der UNO trägt sie nunmehr alle Wirtschaftssanktionen der Vereinten Nationen mit. Bei militärischen Zwangsmassnahmen, deren aktive Unterstützung auch für Mitgliedstaaten freiwillig ist, stellen nicht mehr Neutralitätsüberlegungen, sondern die nationalen Interessen sowie Solidaritätspflichten die Kriterien für eine allfällige Teilnahme dar.

Mit dem von anderen Neutralen schon lange praktizierten Grundsatz "Solidarität bei kollektiven Aktionen der UNO, Neutralität bei deren Handlungsunfähigkeit" bestünde also eine überzeugende argumentative Grundlage, um den Beitritt der dauernd neutralen Schweiz zur UNO zu propagieren. Umso bedauerlicher erscheint, dass es der Bundesrat bis heute aus Angst vor einer öffentlichen Neutralitätsdebatte unterlassen hat, den Wandel seiner UNO-Politik zu kommunizieren und zu begründen. Die Neutralitätsfrage darf nicht, wie gegenwärtig oft der Fall, bagatellisiert werden mit dem Hinweis, dass sie einem UNO-Beitritt nicht im Wege stehe. Vielmehr bedarf es einer offenen Debatte, die einerseits die generell verminderte aussenpolitische Relevanz der Neutralität thematisiert, andererseits konkret auf die Politik der Nichtaktivierung der Neutralität im Kontext der Vereinten Nationen eingeht. Wird eine solche Debatte umgangen, droht eine neuerliche Abstimmungsniederlage, was ein Happy End in der Schweizer UNO-Politik in weite Ferne rücken liesse.

* Daniel Möckli ist Historiker und Forschungsassistent am Zentrum für Internationale Studien in Zürich.

 

 

Jürg Martin Gabriel: Schweizer Neutralität im Wandel: Hin zur EG. Frauenfeld: Huber, 1990.
Reinhold W. Hohengartner: Schweizerische Neutralität und Vereinte Nationen 1945-81. Wien: VWGÖ, 1993.
Daniel Möckli: ´Vor einer neuen UNO-Abstimmung: Drei Erkenntnisse aus der Niederlage von 1986.ª Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik, 2000, 53-87.
Daniel Möckli: Neutralität, Solidarität, Sonderfall: Die Konzeptionierung der schweizerischen Aussenpolitik der Nachkriegszeit, 1943-1947. Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik und Konfliktforschung 55. Zürich: Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse, 2000.

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