Folgende strukturellen Umwälzungen führten in den vergangenen Jahrzehnten zu einer zunehmenden Migration von Frauen und Männern auf dem afrikanischen Kontinent: Die in der Kolonialzeit zunächst als saisonale Wanderarbeit erzwungene und sich schliesslich zu längerfristiger Migration wandelnde Abwanderung der jungen Männer aus den Dörfern hat neben der Umstrukturierung der Arbeitsanforderungen an die Frauen in der Landwirtschaft auch zu einer regional unterschiedlich ausgeprägten Veränderung der alten Gesellschaftsstrukturen geführt. Die Frauen bleiben in wachsendem Masse allein als Haushaltsvorstehende zurück, um ihre Kinder, die Alten und die zurückkehrenden MigrantInnen zu versorgen. Ledige, verwitwete, geschiedene oder mit Wanderarbeitern verheiratete Frauen bildeten und bilden bis heute eine wachsende soziale Schicht auf dem Land. In Folge der wirtschaftlichen Veränderungen sind jedoch nicht mehr bloss Männer, sondern auch Frauen zur Arbeitsmigration in die Städte gezwungen.
Waren es während der Kolonialzeit überwiegend verheiratete Frauen, die mit ihren Männern in die Zentren zogen, so versuchen in jüngerer Zeit auch viele alleinstehende Frauen ihren Lebensunterhalt in den Städten zu verdienen.
Die stadtwärts gerichtete Migration der Männer schliesst für diese die Möglichkeit einer Rückkehr mit ein, während bei Frauen die Abwanderung in die Stadt viel häufiger als bei Männern ein endgültiges Verlassen des ländlichen Raumes bedeutet. Die zunehmende und permanente Abwanderung auch alleinstehender Frauen in die Städte ist das Resultat eines sozialen Wandels, der Frauen zwar neue Möglichkeiten ausserhalb der traditioneller, Rollenzuweisungen (als in der Land- und Viehwirtschaft integrierte Ehefrau und Mutter) eröffnet, gleichzeitig aber mit einem Niedergang traditioneller Autoritäten, Institutionen und Werte einher geht, durch den auch das alte System der sozialen und ökonomischen Sicherung von Frauen in ihren ländlichen Herkunftsgebieten ausgehöhlt wird.
Aus Botswana ist bekannt, dass die Migration angesichts des ökonomischen Wandels und seiner Möglichkeiten Teil einer Bewältigungsstrategie ist, die auf einem Netz vielfacher Verbindungen zwischen dem ländlichen und städtischen Gebiet aufbaut.
Der gewählte Zeitpunkt der Migration einer Frau ist von deren persönlichen und familiären Umständen abhängig; z.B. die Geburt eines Kindes, was zusätzliche Ausgaben verlangt, der Tod eines Elternteils, was die Versorgung des anderen Elternteils bedeuten kann, Scheidung, wodurch Frauen ganz für sich und die Kinder aufkommen müssen etc.
Wie wichtig es ist, die Migration dieser Frauen als ökonomische Strategie zu verstehen, wird deutlich, wenn sie vor dem Hintergrund der familiären Verantwortung und des Daseinskampfes der betreffenden Haushalte gesehen wird. Viele der Frauen in den Städten sind Teil eines grösseren Familienverbandes auf dem Lande. Oft sind sie die Töchter eines weiblichen Haushalt-Vorstandes. Diese ländlichen Haushalte können sowohl in Botswana als auch in anderen Teilen Südafrikas aber auch Westafrikas nur mit den Löhnen abgewanderter Arbeiterinnen überleben.
Dabei gestalten sich die Verbindungen zwischen Stadt und Land ausserordentlich vielfältig. Während die auf dem Land zurückgelassenen Frauen häufig vom Geld, das ihre Kinder in der Stadt verdienen, abhängig sind, schicken umgekehrt die Frauen, die in der Stadt arbeiten, ihre Kinder zurück aufs Land zur Grossmutter.
Die typische Stadt-Migrantin in Botswana ist jung, unverheiratet und Mutter einiger Kinder. Demnach ist die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Mutter und Tochter in unterschiedlichster Weise eine rationale Antwort auf die Probleme sozialer Reproduktion in einem Umfeld, in dem viele Männer wenig Verantwortung für ihre Nachkommenschaft übernehmen.
Das Arrangement zwischen Mutter und Tochter bringt also beiden Seiten Vorteile. Die Frauen auf dem Land erhalten als Gegenleistung für die Versorgung der bei ihnen aufwachsenden Enkel Waren, Lebensmittel und Geld, was für das Überleben der ländlichen Haushalte unverzichtbar ist. Gleichzeitig helfen die Kinder bei Arbeiten mit und können so zum Fortbestand des ländlichen Haushaltes beitragen. Dieser bietet den Migrantinnen in Zeiten der Not Krankheit, Arbeitslosigkeit einen Ort sozialer Sicherheit, an den sie zurückkehren können.
Unter den gegebenen sozio-ökonomischen Verhältnissen haben die Frauen neue Organisations- und Familienformen entwickelt, um das Überleben auch ohne Unterstützung durch die Männer zu bewerkstelligen.
Oft setzen Frauen die Migration aber auch als Strategie ein, um Konflikte zu bewältigen oder sich gesellschaftlichen Zwängen zu widersetzen. Dies soll am Beispiel der Migration junger Hausa-Frauen illustriert werden. Sie ziehen vom Land nach Katsina, einer alten Haussa-Stadt im Norden Nigerias, und bilden dort die Mehrheit unter den sogenannten unabhängigen Migrantinnen. Auffallend ist, dass der Grossteil dieser jungen Migrantinnen in der Stadt ihren Lebensunterhalt als ´Karuwa" (Kurtisane) verdienen.
Innerhalb des islamischen Händler-Volkes der Haussa wird der Bewegungsraum und die Mobilität der Frauen durch die Geschlechtertrennung stark kontrolliert und eingeschränkt. Eine Redewendung besagt, dass die Haussa-Frau nur zweimal in ihrem Leben den Hof verlässt: Ein erstes Mal bei ihrer Heirat, wenn sie aus dem Haus der Familie in den Hof des Ehemannes zieht; ein zweites Mal bei ihrem Tod, wenn sie zur Bestattung getragen wird. Zwar ist der Islam in ganz Westafrika weit verbreitet, trotzdem kennt keine andere Ethnie einen derart rigiden Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit.
Obwohl die räumliche Mobilität der Frauen eingeschränkt ist, gibt es gesellschaftlich akzeptierte weibliche Migrationsmuster.
Es kommt vor, dass junge Frauen zu städtischen Verwandten geschickt oder gerufen werden. Sie leben dann bei diesen und helfen im Haushalt mit. Sie erweisen einer Ehefrau nützliche Übermittlungsdienste bei deren Handel mit zubereitetem Essen, landwirtschaftlichen Produkten oder Gebrauchsgegenständen, und machen bald die nötigen Kontakte, um selbständig einen Handel aufzubauen. Auf diese Weise verdienen sie Geld, das sie den zurückgebliebenen Verwandten schicken können. Zentral ist, dass diese Frauen noch immer unter der Autorität von Verwandten stehen und demnach ihre Mobilität kontrolliert bleibt.
Manche Frauen gehen zusammen mit ihrem Ehemann in die Stadt und müssen Arbeit suchen. Andere Frauen sind ganz auf sich gestellt; alleine nach Katsina migriert sind einige ältere oder verwitwete Frauen. Sie arbeiten als Hausangestellte, Wasserverkäuferinnen, Händlerinnen.
Die meisten der autonomen Haussa-Migrantinnen sind allerdings unter den jungen Frauen zu finden. Der Grossteil dieser Frauen verdient ihren Lebensunterhalt als ´Karuwa".
Die ´Karuwai" praktizieren eine spezielle Form der Prostitution, ´Karuwanci" genannt. Im Gegensatz zu Nicht-Haussa-Prostituierten, die in Hotels oder eigenen Räumen arbeiten, Klienten direkt ansprechen und den Preis aushandeln, arbeiten und leben die Karuwai zusammen in einem Frauenhaus, in das die die Klienten kommen. Das Geschäft gleicht aber eher dem Werben eines Mannes um eine Geliebte/Ehefrau, der er nach Gutdünken Geschenke macht. Die Frauen sprechen einen Mann nicht aktiv an, sondern erwarten vom Klienten, ausgewählt zu werden. Sie verhalten sich nach der dominierenden Haussa-Ideologie, die den Frauen eine passive und den Männern eine aktive Rolle in einer sexuellen Beziehung zuschreibt. Gleichzeitig sind die Karuwai stolz darauf, nicht in den Strassen herumzulungern, sondern ´eingesperrt" im Frauenhaus zu bleiben ähnlich, wie sich dies für eine Haussa-Ehefrau gehört.
Wie kommt es, dass diese junge Frauen unabhängig migriert sind, obwohl diese Handlung nicht den kulturellen Normen entspricht?
Ein wichtiger Faktor, der die Frauen aus den Dörfern treibt, ist Hunger und Armut. Gerade während der Dürre-Katastrophe Anfang der 70er Jahre erreichte dies drastische Ausmasse. Die meisten Frauen berichteten allerdings, dass sie vor einer ungewollten Heirat oder aus einer unerträglichen Ehe von zu Hause geflüchtet waren.
Eine Frau, die bewusst den elterlichen oder ehelichen Hof verlässt, begeht einen Normbruch. Sie entzieht der männlichen Verwandtschaft, dem Ehemann, die über sie ausgeübte körperliche und räumliche Kontrolle. Dadurch wird sie wirklich eine auf sich gestellte Frau. Denn gleicht ihre Migration einer Flucht, wird sie nicht auf die Unterstützung der Verwandten zählen können, und sie muss in der Stadt selbst schauen, wie sie durchkommt.
Einerseits brechen die Karuwai nicht aus der ihnen bekannten weiblichen Rolle aus im Gegenteil. Andererseits stehen sie nicht mehr unter direkter männlicher Kontrolle, was einer der Vorteile ist, den die Frauen aus der Migration und ihrer Lebensweise als Karuwai ziehen. Innerhalb der ehelichen Grenzen oder der beschränkten ökonomischen Ressourcen der ländlichen Gesellschaft hat die Haussa-Frau nie diese Aussichten auf Unabhängigkeit und Selbstbehauptung, wie ihr dies das Leben als Karuwa in der Stadt bieten kann. Ihre ökonomischen Fähigkeiten kann sie hier für sich selbst nutzen. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer wissen die Frauen ihre Position auch zu ihren sozio-ökonomischen Gunsten zu manipulieren. Da Karuwai Männer aus allen Gesellschaftsschichten treffen, besteht selbst die Möglichkeit einer prestigereichen Heirat. Heiraten können wünschenswert sein, solange sie dadurch ein angenehmes Leben in der Stadt geniessen. Doch Heirat ist nur eine Möglichkeit, die sich ihnen nun in der Stadt bietet. Aufgrund ihrer sozio-ökonomischen Unabhängigkeit haben sie die Wahl.
Einige Migrantinnen haben sich in den Jahren durch Karuwanci und anderer Einkommensquellen ein beachtliches Vermögen erarbeitet. Sie investieren ihren Profit z.B. in Häuser, verlieren den Ruf einer Karuwa und gelten stattdessen als Geschäftsfrauen. Umgeben von einem sozialen Netz von Freundinnen, Klienten und Angestellten verspüren diese Frauen kaum mehr den Wunsch, dieses Leben aufzugeben.
Die Migration in die Stadt eröffnete den Hausa-Frauen einen neuen Handlungsspielraum, in dem sie ökonomische und daher auch persönliche Autonomie erlangten, die sie zuvor nicht hatten.
In ähnliche Richtung weisen auch Beispiele anderer Frauen-Migrationen. Beispielsweise zeigte sich in Kenia, dass die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, insbesondere der Konflikt zwischen Männern und Frauen, zentral für die weibliche Migration und das unterschiedliche Erleben des gesellschaftlichen Wandels sind. Scheidung ist oft ein ´Auslöser" weiblicher Migration, aber auch Verwitwung, voreheliche Schwangerschaft und Unfruchtbarkeit sind entscheidende soziale Faktoren. Frauen wandern also ab, weil sie sozialen Stigmata oder auch Streitigkeiten mit der Verwandtschaft entkommen wollen bzw. weil sie aufgrund ihres sozialen Status den Zugang zu Produktionsmitteln verloren haben.
Dieser Text erschien zuerst im FIZ-Rundbrief Nr. 18, der dem Thema ´Frauenmigration" gewidmet ist. Bezugsadresse: FIZ Fraueninformationszentrum für Frauen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa, Quellenstrasse 25, 8005 Zürich. Tel 01/271 82 82, Fax 01/272 50 74. Email: fiz-mail@access.ch.
*Stephanie Guha ist Ethnologin. Sie hat längere Zeit in Westafrika gelebt und sich auf Situation der Frauen dort spezialisiert.Inhaltsübersicht | nächster Artikel |